Das Sandmann-Projekt. Anette Hinrichs
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Читать онлайн книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs страница 5
Tiedemann stand mit Kriminalhauptkommissar Fricke vor Wenningers Hauseingang. Beim Anblick ihres Vorgesetzten musste Malin unwillkürlich lächeln. Sein Bauch hatte in den letzten Wochen wieder an Umfang zugelegt und zeichnete sich deutlich unter seinem Schutzanzug ab. Ein gutes Zeichen, dachte Malin. Nach der Trennung von seiner Frau vor einigen Monaten hatte Fricke rapide an Gewicht verloren. Jetzt befand er sich zumindest äußerlich wieder im Normalzustand. Gerade lüpfte er die Kapuze seines Overalls und zerzaustes, aschblondes Haar kam zum Vorschein. Malin hätte darauf gewettet, dass er unter dem Schutzanzug eine seiner obligatorischen Cordhosen und ein kariertes Hemd trug.
»Moin«, sagte Fricke. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen und die hellen Augen waren leicht unterlaufen. »Tut mir leid, dass ich dich eher zurückholen musste, Brodersen. Du kannst die restlichen Überstunden bei nächster Gelegenheit abbummeln.«
»Schon gut«, wehrte Malin ab. »Es waren ohnehin nur noch zwei Tage. Hat sich hier in der Zwischenzeit etwas Interessantes getan?«
Tiedemann schüttelte den Kopf. »Aber die Spusi ist auch noch nicht ganz fertig.«
»Zunächst sollten wir sehen, dass wir das Opfer identifizieren«, brummte Fricke. Er wandte sich an Malin. »Haben die Befragungen der Nachbarn etwas ergeben?«
»Von denen, die ich angetroffen habe, hat niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt. Bei den Nachbarn zwei Häuser weiter habe ich erfahren, dass es eine Schwester geben soll.« Sie berichtete von ihrem Gespräch mit dem Postboten. »Ein merkwürdiger Zeitgenosse. Der konnte mir kaum in die Augen sehen.«
»Vielleicht stand er noch ein wenig unter Schock. Die Leiche ist nicht gerade der schönste Anblick.« Fricke wies mit dem Kopf zum Nachbarhaus hinter der Hecke. »Was ist mit den Leuten nebenan? Da müsste doch jemand die Schüsse gehört haben.«
»Die Rollläden sind alle heruntergelassen. Vermutlich sind die Bewohner im Urlaub.«
»Dann versuche herauszufinden, wann sie wiederkommen oder wie wir sie kontaktieren können.«
Malin nickte und sah zum angrenzenden Wald. »Vielleicht war es ein Einbrecher, der dachte, es gäbe bei Dr. Wenninger etwas zu holen.«
»Wenn man sich den Zustand des Hauses so anschaut, glaube ich das eher weniger.« Fricke musterte die fleckige Fassade.
»Drinnen ist auch alles stark abgewohnt.« Tiedemann streifte die Latexhandschuhe ab. »Das Einzige, was hier noch einigermaßen in Schuss ist, ist der Garten.«
»Hans!« Frank Glaser kam aus dem Haus und hielt eine braune Spurensicherungstüte in die Höhe. »Wir haben was!«
Fricke hob fragend die Brauen.
Der Kriminaltechniker verzog sein grimmiges Gesicht zu einem Lächeln. »Eine Patronenhülse unter dem Sessel. Die hat der Täter offenbar übersehen.«
»Dann wissen wir, um welches Projektil es sich handelt?«
»Der Stempel am Patronenboden ist kaum zu entziffern. Aber vielleicht können wir bei der KTU noch etwas herausholen. – Ich mache mich dann mal weiter an die Arbeit.« Glaser verschwand wieder im Haus.
Fricke wandte sich an Tiedemann. »Habt ihr ein Adressbuch oder irgendetwas in der Art gefunden?«
Tiedemann nickte. »Die Telefonnummer vom Zahnarzt steht drin, ich hab ihn schon angerufen. Er hat versprochen, gleich nachzusehen, ob er Röntgenaufnahmen von Wenninger hat.«
»Gut. Und die Adresse der Schwester?«
»Fehlanzeige. Auch keine Kontaktdaten von anderen Angehörigen, sofern sie denn Wenninger heißen.«
»Vielleicht gibt es keine weiteren Verwandten.« Fricke sah auf seine Armbanduhr. »Also gut. Die Identifizierung der Leiche steht an erster Stelle. Ole, du kümmerst dich um die Zahnarztunterlagen und fährst gegebenenfalls direkt damit für einen Abgleich in die Rechtsmedizin. Und du, Brodersen, treibst in der Zwischenzeit die Adresse der Schwester auf. Sobald wir sicher sind, dass der Tote im Haus Kurt Wenninger ist, stattet ihr der Dame einen Besuch ab. Alles klar?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Fricke die Kapuze seines Schutzanzuges wieder über den Kopf und drehte ihnen den Rücken zu.
Am späten Nachmittag wurde das Mordopfer anhand seiner Zahnschema-Karte als der achtundsiebzigjährige Kurt Wenninger identifiziert.
Malin fuhr mit Ole Tiedemann zu Ilse Wenninger, deren Adresse sie im Melderegister gefunden hatte. Im Wagrierweg in Niendorf stellte sie ihren Mini in einer der Parkbuchten ab und wartete, bis der Kollege seine langen Beine umständlich aus dem Auto befreit hatte, ehe sie ebenfalls ausstieg. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sich jeglichen Kommentar bezüglich der Größe ihres fahrbaren Untersatzes verkniff.
An einem hohen, grauen Mehrfamilienhaus mit der Nummer neun ging Malin die zahlreichen Türschilder durch, bis sie auf den Namen Ilse Wenninger stieß. Sie drückte den Klingelknopf. Sekunden später ertönte der Summer. Im Treppenhaus empfing sie Essensgeruch. Malin, die seit dem Joghurt am Morgen nichts mehr gegessen hatte, bekam Hunger. Hinter einer der Türen im Erdgeschoss brüllte ein Baby.
Sie nahmen den Fahrstuhl in den sechsten Stock. Eine ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren und randloser Brille öffnete ihnen. Sie war ein wenig mollig und hatte ein offenes, sympathisches Gesicht.
»Frau Wenninger?« Tiedemann zückte seinen Dienstausweis.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin Natascha Raschke. Ich helfe Frau Wenninger ab und zu im Haushalt, wenn sie gerade einen ihrer Rheumaschübe hat. Sie sind von der Polizei?«
Tiedemann nickte. »Wir würden gerne mit Frau Wenninger sprechen. Ist sie da?«
»Ja, Entschuldigung.« Die Haushaltshilfe ließ sie eintreten. »Frau Wenninger ist im Wohnzimmer. Es ist gleich geradeaus.«
Ilse Wenninger war eine winzige, dünne Person mit weißen Löckchen und einer Haut wie altem Pergament, zerknittert und von unzähligen Falten durchzogen. Die betagte Gestalt thronte in einem bunt geblümten Kleid in einem Lehnstuhl mit einem Kissen im Kreuz. Misstrauisch beäugte sie die Neuankömmlinge. Malin schätzte sie auf Mitte siebzig.
»Frau Wenninger? Malin Brodersen. LKA Hamburg.« Sie reichte ihr die Hand und war erstaunt über den kräftigen Händedruck.
Ole Tiedemann tat es seiner Kollegin nach und stellte sich ebenfalls vor.
Ilse Wenninger zeigte auf ein durchgesessenes Sofa. »Setzen Sie sich. Und dann sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.«
»Es geht um Kurt Wenninger«, verkündete Tiedemann.
Ihre Züge verhärteten sich. »Um meinen Bruder? Was ist mit ihm? Ist er tot?«
»Leider ja.« Tiedemann war nicht anzumerken, ob ihn