Das Sandmann-Projekt. Anette Hinrichs
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Читать онлайн книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs страница 3
»Eine männliche Leiche. Schätzungsweise zwischen siebzig und achtzig. Fortgeschrittene Verwesung. Dr. Steinhofer sieht ihn sich gerade an. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Toten um den Hauseigentümer Dr. Kurt Wenninger handelt.«
»Weiß man schon, was passiert ist?«
»Er wurde offenbar erschossen.« Tiedemann zupfte an seinem Mundschutz. »Der Postbote hat den Toten entdeckt. Ihm waren der überfüllte Briefkasten und der Geruch aufgefallen. Als niemand auf sein Klingeln geöffnet hat, ist er durch den Garten zur Terrasse gegangen, um ins Haus zu schauen.«
Dr. Steinhofer schob sich mit ihrem Arztkoffer in der Hand an Tiedemann vorbei in die Diele und lüpfte ihren Mundschutz. Die Rechtsmedizinerin war eine kühle Blondine in den Vierzigern, die selbst im Schutz-Overall eine elegante Erscheinung abgab. Sie nickte Malin kurz zu und wandte sich an Tiedemann. »Der Tote hat Schussverletzungen in Bauch, Brust, Schulter und Oberschenkel.«
»Was denken Sie, wie lange er tot ist?«, fragte Tiedemann.
Dr. Steinhofer runzelte die Stirn. »Das ist schwer zu sagen. Die Verwesung ist bereits fortgeschritten, die Oberhaut an den unverletzten Stellen beginnt sich abzulösen. Vorsichtig geschätzt acht bis vierzehn Tage. Genaueres ergibt hoffentlich die Obduktion oder das entomologische Gutachten. Melden Sie sich, wenn Sie fertig sind. Ich lasse den Toten dann abholen. Und richten Sie Fricke aus, dass er vor morgen Nachmittag nicht mit der Obduktion rechnen kann. Ich habe noch weitere Kunden.« Ein letzter kühler Blick und Dr. Steinhofer verließ das Haus.
»Also gut, dann wollen wir mal.« Tiedemann sah seine Kollegin an. »Am besten, du machst dir erst einmal selbst ein Bild.«
Malin folgte ihm ins Wohnzimmer. Die vertäfelte Holzdecke, das Monstrum von einem Eichenschrank, die durchgesessene Sofagarnitur und die ausgeblichenen Perserteppiche hatten ihre besten Zeiten seit Jahren hinter sich. Die Gardinen waren aufgezogen. Vereinzelte Sonnenstrahlen warfen Lichtreflexe auf den Ohrensessel aus dunkelrotem Samt, der zum Fenster in den Garten hin ausgerichtet war.
Ein Kriminaltechniker beugte sich gerade über den Sessel und Malin erkannte Frank Glaser, dessen kleine, runde Brille zwischen Kapuze und Mundschutz hervorlugte. Er murmelte vor sich hin und beförderte mit einer Pinzette Insekten in ein nummeriertes Gefäß. Erst jetzt bemerkte Malin einen Arm mit marmorierter Grünverfärbung auf der abgewetzten Lehne. Der Tote saß im Ohrensessel.
Sie trat ein paar Schritte näher. Insekten tummelten sich auf dem geschwollenen Leib und in den Körperöffnungen des Toten. Am rechten Oberschenkel, an der linken Schulter und im Rumpf konnte man deutlich Einschusswunden erkennen. Ihr Magen rebellierte und der Gestank drang jetzt auch durch ihren Mundschutz. Verdammt.
»Lass uns einen Moment rausgehen«, schlug Tiedemann vor.
Malin folgte ihm schweigend aus dem Haus, löste ihren Mundschutz und atmete tief durch.
»Wir sind hier bis auf weiteres erst mal zu zweit«, sagte Tiedemann, während sie auf dem Kiesweg das Haus umrundeten. »Sven ist beim Zahnarzt. Wurzelbehandlung. Und der Chef hat irgendeinen wichtigen Termin.«
»Und was ist mit Fred?«
Tiedemann warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu. »Er hat dir nicht gesagt, dass er Urlaub hat? Gestern Abend ging sein Flieger in die Türkei.«
»Nein, das wusste ich nicht.« Malin verdrängte die widersprüchlichen Gefühle, die diese Nachricht bei ihr auslöste.
Der hintere Garten erinnerte an eine gut gepflegte Parklandschaft. Die sauber getrimmte Thujenhecke umrahmte symmetrisch angelegte Beete, Kolonien von runden und zylinderförmig geschnittenen Buchsbäumen und eine großzügig angelegte Rasenfläche.
Die beiden Kriminalbeamten blieben vor der Terrasse stehen und sahen durch das Verandafenster. Der Tote im Ohrensessel schien sie direkt anzustarren.
»Hast du die Einschusslöcher gesehen?«, fragte Tiedemann.
»Hab ich.« Malin musterte ihn von der Seite. Wie es schien, machte ihm der unappetitliche Anblick nichts aus.
Tiedemann bemerkte ihren Blick. »Habe ich eines der Viecher mit rausgebracht? Oder warum starrst du mich so an?« Er fegte mit seiner behandschuhten Hand ein imaginäres Insekt aus seinem Gesicht.
Malin ließ seine Frage unbeantwortet. »Weiß man schon etwas Näheres über den Hauseigentümer?«
»Bisher nicht. Aber du könntest mit Stefan Biedermann, dem Postboten, sprechen. Er wartet bei den Nachbarn zwei Häuser weiter. Postboten sind oftmals gute Informationsquellen.« Seine Stirn krauste sich, während er die Leiche betrachtete. »Ein Profi war das nicht. Der Bauchschuss allein hätte ausgereicht, um den Mann in kürzester Zeit verbluten zu lassen. Offenbar hatte da noch jemand eine Rechnung offen.«
3
Das gelbe Postfahrrad stand zwei Einfahrten weiter vor einem klassischen Rotklinkerbau. Im dazugehörigen Garten war alles vorhanden, was Kinderherzen höher schlagen ließ: Sandkasten, Kletterbaum samt Baumhaus, Fußballtore und ein Riesentrampolin. Eine zierliche, rothaarige Frau Mitte dreißig öffnete die Tür. Sie trug ein ebenso rothaariges Kleinkind auf dem Arm.
Malin, die sich ihrer Schutzkleidung mittlerweile entledigt hatte, zeigte ihren Dienstausweis und stellte sich vor.
Die Frau reichte ihr die Hand. »Ich bin Nadine Schröder. Sie wollen bestimmt mit dem armen Herrn Biedermann sprechen. Er sitzt in der Küche.« Sie trat beiseite, um die Kriminalbeamtin hereinzulassen.
Anders als im vorigen Haus war dieser Eingangsbereich hell und freundlich gestaltet. Wände, Treppen und Türen waren weiß, der Fliesenboden hatte ein Schachbrettmuster und bunt gerahmte Kinderzeichnungen setzten Farbakzente. Aus dem oberen Stockwerk tönten die dumpfen Bässe eines Popsongs gemischt mit Kinderstimmen.
Malin schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich würde vorab gern kurz mit Ihnen sprechen.«
Nadine Schröder flüsterte dem Kind auf ihrem Arm etwas ins Ohr und setzte es dann auf den Boden. Es flitzte umgehend in einen der Nebenräume. »Ich möchte nicht, dass die Kleine etwas mitbekommt. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Danke, nein. Sie wissen, dass im Nachbarhaus ein Toter gefunden wurde?«
Nadine Schröder nickte.
»Wie gut kennen Sie Ihren Nachbarn Dr. Wenninger?«
»Nicht besonders gut. Wir grüßen uns, wenn wir uns sehen, manchmal wechseln wir auch ein paar Worte.« Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn. »Ist er der Tote?«
»Wir gehen davon aus«, erwiderte Malin. »Wann haben Sie Dr. Wenninger das letzte Mal gesehen?«
»Das ist bestimmt zwei Wochen her.« Nadine Schröder legte nachdenklich den Kopf schief. »Ich glaube, das war Dienstag vor zwei Wochen, der fünfte August. Wir hatten Hochzeitstag. Mein Mann und ich sind erst ziemlich spät nach Hause gekommen. So gegen ein Uhr morgens … und ich weiß noch, dass ich mich über das Taxi gewundert habe, das vor Dr. Wenningers