Das Sandmann-Projekt. Anette Hinrichs
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Читать онлайн книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs страница 4
»Er hat irgendwann mal eine Schwester erwähnt.« Nadine Schröder krauste die Nase. »Sie sollten mit den Tiefenbrunners im Nebenhaus sprechen. Frau Tiefenbrunner interessiert sich immer sehr für die Vorgänge in ihrer Nachbarschaft.« Sie lächelte gequält.
»Danke, Frau Schröder.« Malin reichte ihr eine Visitenkarte. »Für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt. Wenn Sie mir jetzt vielleicht den Weg in die Küche zeigen könnten?«
Der Postbote saß am Tisch und presste seine Hände um ein Wasserglas. Er war groß und sehnig, hatte ein längliches Gesicht mit engstehenden Augen und dunkelblonde Haare, die im Nacken zu einem Zopf gebunden waren. Seine blau-gelbe Dienstkleidung wirkte in dem ganz in Weiß gehaltenen Raum wie ein Fremdkörper. Malin schätzte den Mann auf Anfang zwanzig.
»Herr Biedermann?« Sie setzte sich auf den gegenüberstehenden Stuhl. »Ich bin Malin Brodersen vom LKA.«
Stefan Biedermann drehte das Wasserglas in seinen Händen, ohne den Blick zu heben. »Ich wollte auch mal zur Polizei. Jetzt bin ich Postbote und finde trotzdem Leichen.« Seine Finger hielten in der Bewegung inne. »Ist das Dr. Wenninger, da drüben im Sessel?«
»Wir vermuten es. Kannten Sie ihn?«
Der Postbote drehte weiter am Wasserglas. Winzige Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Wir haben uns öfter unterhalten. Meistens über Gartenarbeit. Ich habe so einen kleinen Schrebergarten. In Langenhorn.« Er schaute Malin das erste Mal direkt an und sie bemerkte den bekümmerten Ausdruck in seinen Augen. Im nächsten Moment fixierte er wieder das Glas. »Dr. Wenninger hat mir Tipps gegeben. Für den Rasen. Leider ist meiner nie so schön geworden wie seiner. Englischer Rasen. Aber der nützt ihm nun ja auch nichts mehr.«
»Erzählen Sie mir, wie Sie den Toten gefunden haben.«
»Der Briefkasten wurde nicht geleert. Ich hätte mir gleich denken können, dass Dr. Wenninger nicht in den Urlaub gefahren ist. Das hat er noch nie gemacht. Zumindest nicht in den drei Jahren, in denen der Schleusenredder auf meiner Route liegt.« Er trank einen Schluck Wasser. »Spätestens, als er seinen Rasen nicht wie gewohnt gemäht hat, hätte ich es raffen müssen. Hab ich aber nicht. Wissen Sie, englischer Rasen sollte alle paar Tage gemäht werden. Die optimale Länge ist drei bis vier Zentimeter.«
»Kommen wir auf heute Mittag zurück.«
»Ach so, ja. ’tschuldigung.« Stefan Biedermann rümpfte die Nase. »Der Geruch ist mir aufgefallen. Erst dachte ich mir nicht viel dabei, aber heute Morgen stank es dann so penetrant, dass ich nachgesehen habe.« Der Postbote wurde aschfahl. »Das werde ich wohl mein Lebtag nicht vergessen.«
Malin nickte verständnisvoll. »Ist Ihnen in den letzten Wochen irgendetwas aufgefallen? Hat sich jemand auf dem Grundstück aufgehalten oder hat Dr. Wenninger ungewöhnlichen Besuch bekommen? Haben Sie etwas beobachtet?«
Stefan Biedermann wich ihrem Blick aus und schüttelte den Kopf.
Malin unterdrückte ein Seufzen. »Können Sie mir sonst noch etwas über Dr. Wenninger erzählen?«
Der junge Mann nahm einen weiteren Schluck Wasser. Er hatte einen konzentrierten Gesichtsausdruck und es schien, als müsse er seine Antwort gründlich abwägen. »Er war früher mal so ein Nervenarzt.«
Malin zückte ihr Notizbuch. »Sie meinen Psychiater oder Neurologe?«
»Genau. Er hat mir mal davon erzählt.« Stefan Biedermann grinste schief.
Etwas daran löste bei Malin Unbehagen aus. »Was hat er Ihnen erzählt?«
Der Postbote ruderte augenblicklich zurück. »Nicht viel. Nur dass er mal eine Praxis in Volksdorf hatte. Aber das ist schon ewig her.«
»Wir würden gerne mit den Angehörigen von Dr. Wenninger sprechen. Frau Schröder erwähnte eine Schwester. Wissen Sie vielleicht den Namen?«
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Sie heißt Ilse. Ilse Wenninger.« Stefan Biedermann errötete leicht. »Ich habe ihren Namen mal auf einem Brief gesehen.«
»Woher wissen Sie, dass es sich dabei um die Schwester handelt?«
Er griff nach dem Wasserglas und trank einige Schlucke, bevor er antwortete. »Mein Fehler. Als Sie mich eben nach Dr. Wenningers Schwester fragten, bin ich automatisch davon ausgegangen, dass es diese Ilse ist. Dabei könnte sie natürlich genauso gut eine Nichte, Tante oder sonstige Verwandte sein.«
»Können Sie sich zufällig an die Absenderadresse erinnern?«
»Es war eine 224er Postleitzahl. Demnach müsste Frau Wenninger irgendwo in Hummelsbüttel, Langenhorn oder Niendorf wohnen. Mehr weiß ich nicht.«
Malin sah ihn erstaunt an. »Alle Achtung, dass Sie sich sogar einen Teil der Postleitzahl gemerkt haben.«
Das Gesicht des Postboten verschloss sich, doch zumindest erwiderte er diesmal ihren Blick. Ein eigentümlicher Ausdruck lag in seinen Augen. »Dr. Wenninger bekam selten Post.« Er schob abrupt das Glas beiseite und erhob sich. »Kann ich jetzt gehen? Ich muss noch die restlichen Briefe verteilen.«
Malin reichte ihm ihre Visitenkarte. »Danke, Herr Biedermann. Möglicherweise kommen wir noch mal auf Sie zu.«
Der Postbote ließ die Karte ungelesen in die Hosentasche gleiten, nuschelte einen kurzen Abschiedsgruß und verließ die Küche. Aus der oberen Etage ertönte Kindergeschrei.
Malin sah nachdenklich zu der Tür, durch die Stefan Biedermann verschwunden war. Der Mann war mehrfach ihrem Blick ausgewichen. Zufall? Oder hatte er etwas zu verbergen?
4
»Wo, verdammt, warst du!?« Wolfgang Herzog rieb sich die graumelierten Schläfen.
Verena schwieg, stand vor ihm und strafte ihn mit hochmütigem Blick. Sie war eine schöne Frau. Hochgewachsen und schlank, mit brünett getöntem Haar, das ihr schimmernd um die Schultern floss. Ihr Gesicht war oval, mit hohen, ausgeprägten Wangenknochen und klaren blauen Augen. Das flaschengrüne, enganliegende Seidenkleid umschmeichelte ihre perfekt geformte Figur. Niemand würde jemals ihr wahres Alter erraten.
»Jetzt sag doch endlich was.« Mit allem kam er zurecht. Mit ihren Vorwürfen. Ihrer Wut. Doch ihr Schweigen zermürbte ihn. »Verena.« Er streckte die Hand nach ihr aus und bemerkte, wie sich ihre rot lackierten Fingernägel in die Lehne des vor ihr stehenden Stuhls krallten.
Er verstand sie kaum, als sie endlich sprach. So leise war ihre Stimme. »Du widerst mich an.« Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
Schwer atmend setzte sich Wolfgang auf den Stuhl hinter seinen Schreibtisch. Er war todmüde und sein Kopf schmerzte. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen und auf Verena gewartet. Immer wieder hatte er auf die Leuchtziffern seines Weckers gestarrt. Hatte gebetet, dass sie endlich nach Hause kam. Doch erst in den frühen Morgenstunden war eine Autotür vor dem Mehrfamilienaltbau am Hofweg zugeschlagen worden. Minuten später hatte sie endlich die Wohnung betreten. Erst da hatte er für wenige Stunden in den Schlaf gefunden.
Er wusste, er würde Verena verlieren. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.
Der Leichenwagen der Rechtsmedizin rollte langsam an Malin vorbei, als sie über den knirschenden Kies ging. Die Sonne hatte die Wolken