Tod an der Wallmauer. Anna-Lena Hees

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Tod an der Wallmauer - Anna-Lena Hees

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er schließlich wagemutig die Mauer und schaute hinunter. Das Brecheisen, mit der er das Tor aufgebrochen hatte, warf er nun hinter sich. Tom breitete die Arme aus. Der Regen peitschte ihm nun ins Gesicht, und die Mosel schlug Wellen. In der Ferne war leises Donnergrollen zu hören. Ein Gewitter kündigte sich für die zweite Nachthälfte an. Dann knackten die Äste, die auf dem Boden lagen. Toms Herz raste. Wenn ihn jetzt jemand sah, war alles umsonst. Noch einmal atmete er tief durch und warf einen letzten kurzen Blick auf den Fluss. Er hörte, wie das Wasser ans Ufer klatschte, und sprang.

      

       Kapitel 1

      Das Gewitter der Nacht hatte sich verzogen, und die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Wolkendecke. Bald war kein einziges Wölkchen mehr zu sehen, und ein weiterer schöner Sommertag lag über dem Ortskern des Trierer Stadtteils Pfalzel. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen am Moselufer, und das kleine Dorf erwachte aus seinem nächtlichen Schlaf. In manchen Gärten sprangen die ersten Rasenmäher an. Entlang der ehrwürdigen Wallmauer waren bereits einige Jogger unterwegs. Was sich aber dort in der Nacht abgespielt hatte, wusste bis jetzt noch keiner. Es dauerte nicht sehr lange, bis ein Jogger sich eine Ruhepause gönnen wollte. Dieser Jogger hörte auf den Namen Ben Hansen, der zusammen mit seiner Frau schon seit einigen Jahren in Pfalzel lebte. Er war groß, hatte breite Schultern und schlanke, muskulöse Beine. Er hatte sehr kurzes, dickes Haar. In seinem Gesicht zeigten sich ein paar Stoppeln. Ben war bereits seit einer Stunde unterwegs. Nun war er völlig aus der Puste und lief ein Stück auf die Wallmauer zu. Unterhalb der großen Mauer fand sich eine asphaltierte Fläche, ebenfalls von dieser und einem niedrigeren Mauerstück umgeben. Über diese Fläche konnte man zu einer Gittertür kommen, die einem Zutritt zu einem dunklen Gang, einer der Kasematten unter der Anlage, gewährte. Diese Tür war allerdings die meiste Zeit verschlossen, sodass sich keine Menschenseele in die Geheimgänge der Befestigungsanlage verirren konnte.

      Ben interessierte sich auch recht wenig für die Gittertür. Er wollte sich bloß auf das Mäuerchen setzen, um sich auszuruhen. Nichtsahnend kam er immer näher, und als er die Mauer erreicht hatte, fiel sein Blick auf eine Person, die auf dem Asphalt in einer Blutlache lag. Ben stockte der Atem. Er zitterte am ganzen Leib. Die leblose Person, auf die seine dunklen, tiefen Augen nun blickten, lag auf dem Bauch, sodass ihr Gesicht nicht zu sehen war. Ben stieg auf die Mauer und sprang auf den Asphalt, um die Person zu begutachten. Die Person schien weniger muskulös zu sein. Die dunkelbraunen Haare waren kurz geschnitten. Ganz vorsichtig drehte Ben die Person auf den Rücken und schlug sich die Hand vor den Mund. Er realisierte, dass es sich um einen Mann handelte, der nicht mehr lebte. Das rasierte Gesicht des toten Mannes hatte überall blutige Wunden, aus denen nun aber kein frisches Blut mehr strömte. Selbst aus den offenen, glasigen Augen schien Blut gequollen zu sein, weil davon Spuren erkennbar waren. Ben spürte, wie sein Herz heftig pochte.

      »Ich muss die Polizei rufen. Schnell!«, sagte er mehr zu sich selbst und nahm sein Handy hervor. Eilig wählte er die Nummer der Polizei und schilderte detailliert den Sachverhalt. Danach sollte er so lange warten, bis die Polizei eintraf. Genauso lange musste er auch bei dem Toten ausharren. Erschöpft ließ er sich auf der Mauer nieder und hielt Ausschau. Die Polizei war zehn Minuten später vor Ort. Ben war erleichtert, als er die Polizisten auf sich zukommen sah. Hektisch winkte er ihnen zu.

      »Hallo! Wie gut, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte er und wies mit einer Hand auf die Leiche.

      »Guten Morgen, der Herr. Sie haben die Leiche gefunden?«, fragte ein großer, bärtiger Polizist und musterte den Toten.

      Ben nickte. »Ja, habe ich. Ach, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Hansen mein Name. Ben Hansen. In der Aufregung vergisst man so einiges.«

      »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Hansen. Das kann schon mal passieren.« Der Polizist – Bruno Schmidt – klopfte Ben beruhigend auf die Schulter. Seine Kollegen hatten sich inzwischen dem Toten gewidmet und schauten diesen ganz genau an, um ansatzweise sagen zu können, was da passiert sein mag.

      »Das sieht ziemlich übel aus«, sagte Brunos Kollege Dietfried Schwartz nach einer Weile. »Ich nehme an, dass er von der Mauer gefallen ist. Stellt sich mir bloß die Frage nach dem Warum. Auf jeden Fall müssen wir hier die Kollegen von der Kriminalpolizei hinzuziehen.« Schon sprach er in sein Funkgerät und nickte hinterher bestätigend.

      Es dauerte auch gar nicht lange, da war der Wagen des Ermittlertrios um Ottfried Braun, Hermann Zinn und Sabrina Fass zu sehen, allerdings waren nur Ottfried und Hermann zu diesem Einsatz ausgerückt. Ottfried war der leitende Kriminalhauptkommissar in dieser Truppe. Er war schon etwas älter, 62 Jahre, hatte schon in anderen Städten viele Fälle gelöst und war immer noch fit wie ein Turnschuh. Sowohl seine Haare als auch sein voller Bart präsentierten sich in gräulichem Weiß. Seine großen, dunklen Augen lagen in tiefen Höhlen, strahlten aber sehr viel Wärme und Sympathie aus. Der Kommissar war kräftiger gebaut als der Rest der versammelten Männer. Über seiner beigen Hose wölbte sich ein dicker Bierbauch, der in ein gestreiftes Hemd gepresst war.

      Eilig liefen die beiden Kriminalkommissare auf die Schutzpolizisten und Ben, den Jogger, zu und machten sich ein erstes Bild von der Situation. Dann fuhr ein weiteres Auto vor und hielt an der Wallmauer. Es war der Rechtsmediziner vom Institut Homburg; Herbert Meyer war sein Name.

      »Eine Leiche?«, fragte er. Polizist Bruno Schmidt nickte langsam und machte den Weg zu dem Toten frei. Der Rechtsmediziner stieg auf das Mäuerchen und sprang hinunter auf die Asphaltfläche, auf der die Leiche lag. Er kniete neben dem Toten nieder und fühlte nach dem Puls der reglosen Person. Dann nickte er. »Ja, ich kann selbst nur den Tod feststellen. Kein Puls. Man sieht es auch seinen glasigen Augen an. Die Totenstarre ist auch schon vollständig eingetreten. Habt ihr schon eine Ahnung, wie er zu Tode kommen konnte?« Fragend schaute Herbert die Polizisten an, die ebenfalls um den Toten herum standen. Die beiden Schutzpolizisten zuckten zunächst die Schultern, dann ergriff Dietfried aber das Wort. »Ich nehme ganz stark an, dass er von der Mauer dort oben gefallen ist. Dass er erschossen wurde, kann ich mir nicht vorstellen, denn an ihm ist keine Schusswunde zu sehen. Eventuell hat ihn auch jemand erdrosselt oder zu Tode geprügelt und ihn dann hierher gelegt. Ich habe noch keine genaue Ahnung. Das müssen die Ermittlungen zeigen, vor allem aber auch die Obduktion, sobald die Leiche von der Staatsanwaltschaft dazu freigegeben wurde.«

      »Das ist richtig«, bestätigte Kriminalhauptkommissar Ottfried Braun. »Dem Mann kann alles Mögliche passiert sein. Meine Kollegen und ich werden es herausfinden.« Mit einem Nicken betrachtete er Hermann. Der Kollege trug eine Brille; er war kurzsichtig. Sein Körper war recht schmal, dafür hatte er ziemlich große Hände, mit denen er immer wieder tatkräftig anpackte. In dem Moment meldete sich Herbert zu Wort: »Erdrosselt wurde der Mann hier nicht. Ansonsten hätte man es am Hals gesehen. Die Verletzungen lassen auf eine Schlägerei mit Todesfolge zurückschließen. Was es auch immer es war, die Rechtsmedizin wird es herausfinden.«

      Ottfried wollte gerade etwas sagen, da trafen die Spurensicherer Manuel Frey und Elias Schneider ein, die von der Kriminalpolizei bereits verständigt wurden.

      »Wir sind nun auch da. Mal schauen, was wir finden können.« Manuel und Elias nickten der Besatzung zu und machten sich ohne ein weiteres Wort an die Arbeit. Allein der Anblick der Leiche verriet, dass der Sturz von der hohen Mauer nicht auszuschließen war. So gingen die Spurensicherer in die Klosterstraße, in der sich einer der Eingänge der Befestigungsanlage befand. Den beiden Männern der Spurensicherung war schnell klar, dass die nun tote Person über die Klosterstraße auf das Gelände der Anlage gelangt war, denn das Tor stand noch immer sperrangelweit offen.

      »Denkst du, was ich denke?« Manuel schaute seinen Kollegen vielsagend an. Dieser nickte.

      »Ja, die Person muss auf jeden Fall von der Mauer gestürzt sein. Sonst wäre das Tor hier nicht aufgebrochen.

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