Der dicke Mann. Wolfgang Armin Strauch
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2. Kapitel
Der Anruf kam um 02: 00 Uhr. Mühsam drehte sich Andrzej Mazur zur Seite, um das nervige Klingeln zu beenden. Der Diensthabende der Miliz meldete den Mord an einer älteren Frau. Der Tatort sei in der Innenstadt und bereits abgesichert. Gerichtsmediziner und Kriminaltechnik waren informiert.
Während er sich anzog, tauchte seine Mutter auf. Ihr feines Gehör hatte sie geweckt.
„Musst du los?“
„Ja. Pack mir bitte noch ein paar Brote ein! Ich weiß nicht, wie lange es dauert.“
Er rasierte sich, um halbwegs zivilisiert zu wirken. Sein Hemd war frisch gebügelt und eine passende Krawatte hatte seine Mutter bereitgelegt. Statt das Jackett anzuziehen, nahm er die Lederjacke vom Haken. Auf dem Motorrad war sie praktischer. Im Dienstzimmer würde er sich umziehen.
Dann steckte er Brote und eine Thermoskanne in die Aktentasche. Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete er sich von ihr und verschwand im Hausflur. Von einer kleinen Erbschaft hatte er ein tschechisches Motorrad gekauft. Die „350er Jawa“ war weinrot. Chromteile spiegelten die Straßenbeleuchtung. Beim ersten Tritt sprang der Motor an. Kraftvoll vibrierte das Gefährt. Er drehte am Griff und ließ die Kupplung kommen. Die Maschine beschleunigte und zog den Fahrer in die Nacht.
Seine Kollegen hatten Mazur den Spitznamen „Jawa“ verpasst. Er wehrte sich nicht dagegen. Vielleicht war er sogar etwas stolz darauf. Ihn regte eher die Überheblichkeit einiger altgedienter Milizionäre auf, die ihn mit seinen achtundzwanzig Jahren immer noch als Frischling ansahen. Dabei besaß er einen Hochschulabschluss und war bereits in bedeutende Fälle einbezogen worden. Dass er jetzt zu einem Mord gerufen wurde, war allerdings der Tatsache geschuldet, dass am Sonntag nach dem Feiertag viele Kollegen freihatten. Es war ihm recht. Mord ist Mord.
Der Tatort war leicht abzusichern, da die schmale Gasse lediglich zwei Zugänge hatte. Die Streife hatte einige Böcke der nahen Baustelle dazu genutzt. Zusätzlich standen Milizionäre auf beiden Seiten. Scheinwerfer beleuchteten den Tatort. Kriminaltechniker suchten alles nach Spuren ab. Angesichts des Schotterwegs, der unverputzten Hauswände und der Kletterpflanzen schien die Mühe aber sinnlos zu sein. Trotzdem prüften sie Zentimeter für Zentimeter. Der Gerichtsmediziner wartete bereits.
Das Opfer war eine ca. 50-jährige gepflegt wirkende Frau mit ausgesprochen stark ausgeprägten Würgemale am Hals. Weitere Verletzungen zeigten sich im Gesicht und am Oberkörper. Abgebrochene Fingernägel sowie Hämatome an Armen und Beinen wiesen darauf hin, dass sich das Opfer gewehrt hatte. Dr. Zeman schloss für den Moment ein Sexualdelikt aus. Er beugte sich über das Gesicht der Leiche.
„Riechen Sie das? Ich würde sagen, es ist ‚Kölnisch Wasser 4711‘.“
Auch Mazur vernahm den süßlichen Duft, doch mit Parfüm kannte er sich nicht aus.
Ein Krankenwagen stand am Straßenrand. Rettungshelfer kümmerten sich um einen Mann, der sichtbar nach Luft rang. Er hatte die tote Frau entdeckt.
Mazur ließ sich die Angaben zu Zeitpunkt und Fundort bestätigen. Da keine Papiere bei der Leiche gefunden wurden, bat er den Zeugen, einen Blick auf die Leiche zu werfen.
„Es ist Jadwiga Klimek aus der 32.“
Bei der Nummer 32 handelte es sich um ein dreigeschossiges altes Bürgerhaus mit einem kleinen Portal und einer riesigen Tür, die mit Elementen des Jugendstils umrahmt war. Das verschnörkelte Klingelbrett war aus Messing. Das Opfer wohnte in der zweiten Etage. Erst nach langem Klingeln öffnete sich ein Fenster. Ein angetrunkener Mann brüllte unverständliche Worte auf die Straße. Als Mazur trotzdem noch einmal klingelte, meldete sich jemand aus der Erdgeschoßwohnung.
„Klimek ist besoffen. Versuchen Sie es morgen Mittag. Vielleicht ist er dann wieder klar.“
Mazur ließ nicht locker und rief: „Wir sind von der Miliz und müssen Herrn Klimek unbedingt sprechen. Bitte öffnen Sie die Tür!“
Der Nachbar öffnete die Haustür. „Ist etwas passiert?“
Der Kriminalist sowie zwei uniformierte Milizionäre betraten das Haus.
„Wann haben Sie Frau Klimek das letzte Mal gesehen?“
Der Nachbar zögerte.
„Ich weiß nicht. Vielleicht gestern Nachmittag.“
Nach langem Klopfen und Klingeln öffnete sich die Tür der Wohnung, in der Opfer gelebt hatte, einen Spalt.
„Was wollen Sie?“
Mazur zeigte seinen Ausweis. „Wir sind von der Miliz, Herr Klimek. Es geht um Ihre Schwester.“
Der Mann glotzte ihn an, als käme er aus einer anderen Welt. Er stank nach Alkohol und Urin. Sein Nachthemd war mit Erbrochenem bekleckert.
„Was soll das? Lasst mich in Ruhe, ihr Hunde!“
Ohne abzuwarten, schob sich Mazur an Klimek vorbei in die Wohnung.
„Wann haben Sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen?“
„Weiß ich nicht. Wenn sie nicht im Zimmer ist, ist sie nicht da.“
Er wies auf eine Tür. Sie war verschlossen. Klimek behauptete, keinen Schlüssel zu haben. Mit etwas Gewalt gelang es einem Milizionär, die Tür zu öffnen. Das Zimmer war sehr ordentlich. Ein Bücherregal dominierte den Raum. An den Wänden hingen einige Familienfotos. Mazur suchte nach Ausweisen oder sonstigen Papieren für eine Identifizierung. In einem Schubfach fand sich ein Betriebsausweis mit Lichtbild. Das Opfer war Jadwiga Klimek.
Eine Befragung ihres Bruders hatte keinen Sinn. Der Kriminalist legte eine Visitenkarte auf den Tisch, auf der er einen Termin für 13: 00 Uhr vermerkte.
Die Kriminaltechnik und der Gerichtsmediziner hatten nichts Überraschendes zu berichten. So schrieb Mazur einen Kurzbericht für seinen Chef. Auf dem Deckblatt stand „Mordsache Jadwiga Klimek“.
Gegen acht Uhr wurde er zu seinem Chef gerufen, der ihn zum bisherigen Ermittlungsstand befragte. Angesichts der großen Brutalität vermutete Mazur eine Beziehungstat. Wäre es ein Raub, hätte der Täter die Tasche gegriffen und das Weite gesucht. Erdrosseln ist allerdings eine andere Kategorie: Man kommt dem Opfer sehr nah und es besteht immer die Gefahr, dass es um Hilfe ruft und sich massiv wehrt.
Der Täter war offensichtlich körperlich überlegen. Dafür sprachen die intensiven Würgemale. Die Hände hatten in der Haut große tiefblaue Spuren hinterlassen. Eine Sexualstraftat hatte der Gerichtsmediziner sicher ausgeschlossen. Wie erwartet, fanden sich am Tatort keine Fingerabdrücke oder Fußspuren.
„Kommt der Bruder des Opfers für die Tat infrage?“
„Auszuschließen ist es nicht. Er war volltrunken. Für 13: 00 Uhr ist eine Befragung geplant.“
Der Chef übertrug Mazur offiziell den Mordfall. Drei Leute standen ihm als Mordkommission zur Verfügung. Hinzu kamen Milizionäre, die für das Stadtviertel zuständig waren.