Der dicke Mann. Wolfgang Armin Strauch
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„Gestern waren wir im Café ‚Elena‘. Gegen 21: 30 Uhr sind wir gegangen. Vor dem Aufgang zum Wawel verabschiedeten wir uns. Es war vielleicht kurz vor 22: 00 Uhr. Ich hatte einen Termin als Garderobendienst bei einer Veranstaltung. Jadwiga wollte nach Hause.“
Ihre Stimme stockte. Offenbar wurde ihr bewusst, dass danach der Mord geschehen war.
„War sie an diesem Tag anders als sonst? Hat sie irgendetwas erwähnt, dass Ihnen ungewöhnlich vorkam?“
„Nein. Eigentlich nicht. Sie hat sich wieder über meinen Großvater aufgeregt, der täglich betrunken ist. Deswegen hatte sie bereits mit dem Gedanken gespielt, ihn aus der Wohnung zu werfen.“
„Haben Sie mit ihrem Großvater keinen Kontakt?“
„Nein. Schon seit Monaten nicht. Jadwiga hatte ihn gebeten, mir Sachen von meiner Mutter zu geben. Er meinte, dass sie das nichts angehe. Ich habe ihn dann selbst aufgesucht und danach gefragt. Da hat er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.“
„Worum ging es dabei?“
„Ich habe von Mutter weder ein Bild oder sonst irgendwelche persönlichen Sachen. Selbst meine Geburtsurkunde rückt er nicht heraus. Jadwiga meinte, dass er Post bekommen hat, die mich betrifft.“
Alina Klimek erregte sich dabei so sehr, dass der Kriminalist sie kaum beruhigen konnte. Er bat sie, am nächsten Tag in die Dienststelle zu kommen. Seine Visitenkarte ergänzte er mit der persönlichen Telefonnummer.
„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, können Sie mich jederzeit erreichen.“
Mazur stieg auf das Motorrad. Er war ein anderer. Die junge Frau hatte in ihm ungewohnte Gefühle ausgelöst. War es nur der Beschützerinstinkt? Er wusste es nicht. Beim Studium hatte man davor gewarnt, Fälle zu dicht an sich herankommen zu lassen. Sie war eine Zeugin. Da verbot sich jede Nähe, wenn man objektiv bleiben wollte. Trotz Müdigkeit fand er keinen Schlaf.
Am nächsten Tag rief der Nachbar des Opfers an. Er berichtete über Krach in der Wohnung. Als Mazur mit dem Streifenwagen vor dem Haus ankam, wartete der Anrufer schon.
„Es ist jetzt zwar wieder still, aber nach dem Mord wollte ich sichergehen.“
Mazur bedankte sich bei ihm. Gemeinsam mit seinem Kollegen Krawczyk betrat er das Haus. Trotz heftigen Klopfens öffnete niemand. Er ließ die Tür aufbrechen. Klimek lag im Wohnzimmer. Der herbeigerufene Arzt stellte den Tod fest. Fremdeinwirkung schloss er aus. Bei dem großen Alkoholkonsum sei ein solches Ende vorauszusehen.
Sicherheitshalber veranlasste Mazur eine Obduktion.
Es war schon 10: 30 Uhr. Er überlegte, ob er nun wirklich zu Alina Klimek fahren sollte, um ihr die Nachricht zu überbringen. Noch an der Tür zögerte er. Von drinnen hörte er Klaviermusik. Er klingelte. Als sie öffnete, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie bat ihn herein. Mazur rutschte auf dem Stuhl hin und her.
„Es tut mir leid.“
Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.
„Ihr Großvater ist heute in den frühen Morgenstunden verstorben. Es sieht wie ein natürlicher Todesfall aus.“
Mazur versuchte, möglichst sachlich den Ablauf der Ereignisse zu schildern. Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. Im Radio lief Chopin.
Der Streifenwagen brachte Mazur und Alina Klimek zum Krankenhaus. Er setzte sich zu ihr auf die Rückbank. Den ganzen Weg über blieb sie stumm.
Der alte Mann lag noch auf dem Seziertisch, da die Obduktion gerade erst abgeschlossen war. Der Tote wirkte entspannt.
„Soll ich Sie mit ihm etwas allein lassen?“
„Nein, ich möchte bitte gehen.“
Alina weinte nicht.
„Jetzt bin ich allein. Ich habe keine weiteren Verwandten.“
Mazur verkrampfte sich das Herz. Als letztes Jahr sein Vater verstarb, hatte er eine tiefe Trauer gespürt. Es war diese Leere, die zurückbleibt, wenn die Worte fehlen, das Unsagbare zu beschreiben, und sinnlose Fragen das Hirn beschäftigen.
Seine Mutter war nicht in der Lage, ihn zu trösten, da sie mit sich selbst beschäftigt war. Sein Motorrad hatte ihn auf andere Gedanken gebracht. Er fuhr mit der Jawa Hunderte Kilometer bis zur Ostsee, um sich am Strand von Sopot in den Sand zu legen und in den Nachthimmel zu blicken.
Am Morgen weckte ihn eine Möwe, die seine Mütze nach Futter durchsuchte. Hohe Wellen hatten in der Nacht Algen sowie allerlei Unrat an den Strand gespült. Das Meer tat jetzt unschuldig und der Himmel versprach einen schönen Sommertag. Bernsteinsammler liefen vorbei. Sie hofften auf Beute. Einige Urlauber hatten sich ins Wasser gewagt. Es war wie eine andere Welt, in die er eingetaucht war. Er fühlte sich befreit. Wieder zu Hause stellte er fest, dass Mutter seine Abwesenheit nicht bemerkt hatte. Damals fühlte er sich schuldig, sie allein gelassen zu haben.
Alina Klimek hatte sich im langen Flur des Krankenhauses auf eine Bank gesetzt und starrte ins Leere.
Mazur fragte: „Darf ich Ihnen helfen? Es gibt Psychologen, die in solchen Fällen …“
Sie winkte ab. „Danke, es geht schon.“
Er brachte sie ins Wohnheim und bat ihre Mitbewohnerin, auf sie achtzugeben. Zum Abschied gab er Alina die Hand, die sie etwas zu lange festhielt. Sie sah zu ihm auf.
Der Kommissar in ihm sagte: „Ich werde mich morgen bei Ihnen melden. Es müssen einige Formalitäten erledigt werden.“
„Na dann, bis morgen!“
Im Hausflur hatte er Zweifel, sie allein zu lassen. Dann hörte er Klaviermusik. Es war ein ruhiges Stück, dessen Komponist er nicht kannte.
Am nächsten Morgen traf er bereits um sechs Uhr auf der Dienststelle ein. Er hatte einen Bericht vorzulegen. Doch was sollte er schreiben? Ein Raubmord kam für ihn wegen der Brutalität und der geringen Beute nicht infrage. Es musste eine Beziehungstat sein. Sein Chef war der Ansicht, dass Tadeusz Klimek seine Schwester im Delirium umgebracht hatte. Diese Version passte aber nicht mit der Spur des Fährtenhundes und dem Ergebnis der Obduktion zusammen.
Klimek war körperlich kaum belastbar. Die Frau hatte sich gewehrt. Bei ihrem Bruder fanden sich bei der Obduktion keine Verletzungen. Er passte nicht ins Bild. Warum sollte er extra in die Gasse gelaufen sein, um sie umzubringen? Volltrunken zu warten, bis sie kommt? Außerdem fehlte ein handfestes Motiv. Wegen der Wohnung konnte es nicht sein, denn die erbte seine Enkelin, mit der er sich zerstritten hatte.
Mazur brachte seine Einwände vor. Sie waren für ihn stichhaltig. Doch die Vorgesetzten in Krakau drangen auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Angeblich hatte Warschau einen Bericht abgefordert.
Der Vorabbericht, in dem Klimek als möglicher Täter genannt wurde, kam dort überhaupt nicht gut an. Ermittlungen gegen einen ehemaligen Offizier waren stets kritisch. Es war zu befürchten, dass das Innenministerium den Fall an sich zöge, um politischen Schaden zu vermeiden. Die Folge wäre womöglich, dass mit den Särgen auch die Wahrheit begraben wurde und der wahre Täter straffrei bliebe.
Mazur