Der Tod in Venedig / Смерть в Венеции. Книга для чтения на немецком языке. Томас Манн
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Es pochte. – Es pochte gleich neun- oder zehnmal ganz rasch hintereinander an die Stubentür, ein kleiner, heftiger, ängstlicher Wirbel, der Herrn Klöterjahn verstummen machte, und eine Stimme, die gar keinen Halt hatte, sondern von Bedrängnis fortwährend aus den Fugen ging[68], sagte in größter Hast:
„Herr Klöterjahn, Herr Klöterjahn, ach, ist Herr Klöterjahn da?“
„Draußen bleiben“, sagte Herr Klöterjahn unwirsch… „Was ist? Ich habe hier zu reden.“
„Herr Klöterjahn“, sagte die schwankende und sich brechende Stimme „Sie müssen kommen… auch die Ärzte sind da… oh, es ist so entsetzlich traurig…“
Da war er mit einem Schritt an der Tür und riss sie auf. Die Rätin Spatz stand draußen. Sie hielt ihr Schnupftuch vor den Mund, und große, längliche Tränen rollten paarweise in dieses Tuch hinein.
„Herr Klöterjahn“, brachte sie hervor… „es ist so entsetzlich traurig… Sie hat so viel Blut aufgebracht, so fürchterlich viel… Sie saß ganz ruhig im Bette und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, und da kam es, lieber Gott, so übermäßig viel…“
„Ist sie tot?“ schrie Herr Klöterjahn… dabei packte er die Rätin am Oberarm und zog sie auf der Schwelle hin und her. „Nein, nicht ganz, wie? Noch nicht ganz, sie kann mich noch sehen… Hat sie wieder ein bisschen Blut aufgebracht? Aus der Lunge, wie? Ich gebe zu, dass es vielleicht aus der Lunge kommt… Gabriele!“ sagte er plötzlich, indem die Augen ihm übergingen, und man sah, wie ein warmes, gutes menschliches und redliches Gefühl in ihm hervorbrach. „Ja, ich komme“ sagte er, und mit langen Schritten schleppte er die Rätin aus dem Zimmer hinaus und über den Korridor davon. Von einem entlegenen Teile des Wandelganges her vernahm man noch immer sein rasch sich entfernendes „Nicht ganz, wie?… Aus der Lunge, was?…“
Herr Spinell stand auf dem Fleck, wo er während Herrn Klöterjahns so jäh unterbrochener Visite gestanden hatte, und blickte auf die offene Tür. Endlich tat er ein paar Schritte vorwärts und horchte ins Weite. Aber alles war still, und so schloss er die Tür und kehrte ins Zimmer zurück.
Eine Weile betrachtete er sich im Spiegel. Hierauf ging er zum Schreibtisch, holte ein kleines Flakon und ein Gläschen aus einem Fache hervor und nahm einen Kognak zu sich, was kein Mensch ihm verdenken konnte. Dann streckte er sich auf dem Sofa aus und schloss die Augen.
Die obere Klappe des Fensters stand offen. Draußen im Garten von „Einfried“ zwitscherten die Vögel, und in diesen kleinen, zarten und kecken Lauten lag fein und durchdringend der ganze Frühling ausgedrückt. Einmal sagte Herr Spinell leise vor sich hin: „Unausbleiblicher Beruf…“ Dann bewegte er den Kopf hin und her und zog die Luft durch die Zähne ein wie bei einem heftigen Nervenschmerz.
Es war unmöglich, zur Ruhe und Sammlung zu gelangen. Man ist nicht geschaffen für so plumpe Erlebnisse wie dieses da! – Durch einen seelischen Vorgang, dessen Analyse zu weit führen würde, gelangte Herr Spinell zu dem Entschlusse, sich zu erheben und sich ein wenig Bewegung zu machen, sich ein wenig im Freien zu ergehen. So nahm er den Hut und verließ das Zimmer.
Als er aus dem Hause trat und die milde, würzige Luft ihn umfing, wandte er das Haupt und ließ seine Augen langsam an dem Gebäude empor bis zu einem der Fenster gleiten, einem verhängten Fenster, an dem sein Blick eine Weile ernst, fest und dunkel haftete. Dann legte er die Hände auf den Rücken und schritt über die Kieswege dahin. Er schritt in tiefen Sinnen.
Noch waren die Beete mit Matten bedeckt, und Bäume und Sträucher waren noch nackt; aber der Schnee war fort, und die Wege zeigten nur hier und da noch feuchte Spuren. Der weite Garten mit seinen Grotten, Laubengängen und kleinen Pavillons lag in prächtig farbiger Nachmittagsbeleuchtung, mit kräftigen Schatten und sattem, goldigem Licht, und das dunkle Geäst der Bäume stand scharf und zart gegliedert gegen den hellen Himmel.
Es war um die Stunde, da die Sonne Gestalt annimmt, da die formlose Lichtmasse zur sichtbar sinkenden Scheibe wird, deren sattere, mildere Glut das Auge duldet. Herr Spinell sah die Sonne nicht; sein Weg führte ihn so, dass sie ihm verdeckt und verborgen war. Er ging gesenkten Hauptes und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, ein kurzes Gebild, eine bang und klagend aufwärts steigende Figur, das Sehnsuchtsmotiv… Plötzlich aber, mit einem Ruck, einem kurzen, krampfhaften Aufatmen, blieb er gefesselt stehen, und unter heftig zusammengezogenen Brauen starrten seine erweiterten Augen mit dem Ausdruck entsetzter Abwehr geradeaus…
Der Weg wandte sich; er führte der sinkenden Sonne entgegen. Durchzogen von zwei schmalen, erleuchteten Wolkenstreifen mit vergoldeten Rändern stand sie groß und schräge am Himmel, setzte die Wipfel der Bäume in Glut und goss ihren gelbrötlichen Glanz über den Garten hin. Und inmitten dieser goldigen Verklärung, die gewaltige Gloriole der Sonnenscheibe zu Häupten, stand hochaufgerichtet im Wege eine üppige, ganz in Rot, Gold und Schottisch gekleidete Person, die ihre Rechte in die schwellende Hüfte stemmte und mit der Linken ein grazil geformtes Wägelchen leicht vor sich hin und her bewegte. In diesem Wägelchen aber saß ein Kind, saß Anton Klöterjahn der Jüngere, saß Gabriele Eckhofs dicker Sohn!
Er saß, bekleidet mit einer weißen Flausjacke[69]und einem großen, weiten Hut, pausbäckig, prächtig und wohlgeraten in den Kissen, und sein Blick begegnete lustig und unbeirrbar dem Blicke Herrn Spinells. Der Romancier war im Begriffe, sich aufzuraffen; er war ein Mann, er hätte die Kraft besessen, an dieser unerwarteten, in Glanz getauchten Erscheinung vorüberzuschreiten und seinen Spaziergang fortzusetzten. Da aber geschah das Gräßliche, dass Anton Klöterjahn zu lachen und zu jubeln begann, er kreischte vor unerklärlicher Lust, es konnte einem unheimlich zu Sinne werden.
Gott weiß, was ihn anfocht, ob die schwarze Gestalt ihm gegenüber in diese wilde Heiterkeit versetzte oder was für ein Anfall von animalischem Wohlbefinden ihn packte. Er hielt in der einen Hand einen knöchernen Beißring[70] und in der anderen eine blecherne Klapperbüchse. Diese beiden Gegenstände reckte er jauchzend in den Sonnenschein empor, schüttelte sie und schlug sie zusammen, als wollte er jemanden spottend verscheuchen. Seine Augen waren beinahe geschlossen vor Vergnügen, und sein Mund war so klaffend aufgerissen, dass man seinen ganzen rosigen Gaumen sah. Er warf sogar seinen Kopf hin und her, indes er jauchzte.
Da machte Herr Spinell kehrt und ging von dannen[71]. Er ging, gefolgt von dem Jubilieren des kleinen Klöterjahn, mit einer gewissen behutsamen und steif-graziösen Armhaltung über den Kies, mit den gewaltsam zögernden Schritten jemandes, der verbergen will, dass er innerlich davonläuft.
Der Tod in Venedig
Erstes Kapitel
Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautet, hatte an einem Fruhlingsnachmittag des Jahres 19…, das unserem Kontinent monatelang eine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der Prinzregentenstraße[72] zu Müchen aus allein einen weiteren Spaziergang unternommen. Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden, hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Innern, jenem „motus animi continuus“[73], worin nach Cicero[74] das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der Mittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun
68
aus den Fugen gehen – расшататься, расклеиться, прийти в беспорядок
69
Flausjacke
70
Beißring
71
von dannen gehen – уходить
72
Prinzregentenstraße – улица Принца Регента, Принц-регент-штрасе в Мюнхене
73
„motus animi continuus“ – беспрерывное движение души
74
Cicero – Цицерон, римский государственный деятель, оратор и писатель