Der Tod in Venedig / Смерть в Венеции. Книга для чтения на немецком языке. Томас Манн
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„Das war die Pastorin Höhlenrauch", sagte er.
„Ja, das war die arme Höhlenrauch", sagte sie. Dann wandte sie die Blätter und spielte den Schluss des Ganzen, spielte Isoldens Liebestod.
Wie farblos und klar ihre Lippen waren, und wie der Schatten in den Winkeln ihrer Augen sich vertieften! Oberhalb der Braue, in ihrer durchsichtigen Stirn, trat angestrengt und beunruhigend das blassblaue Äderchen deutlicher und deutlicher hervor. Unter ihren arbeitenden Händen vollzog sich die unerhörte Steigerung, zerteilt von jenem beihane ruchlosen, plötzlichen Pianissimo[53], das wie ein Entgleiten des Bodens unter den Füßen und wie ein Versinken in verfeinerter Begierde ist. Der Überschwang einer ungeheuren Lösung und Erfüllung brach herein, wiederholte sich, ein betäubendes Brausen maßloser Befriedigung, unersättlich wieder und wieder, formte sich zurückflutend um, schien verhauchen zu wollen, wob noch einmal das Sehnsuchtsmotiv in seine Harmonie, atmete aus, erstarb, verklang, entschwebte. Tiefe Stille.
Sie horchten beide, legten die Köpfe auf die Seite und horchten.
„Das sind Schellen“, sagte sie.
„Es sind die Schlitten“, sagte er. „Ich gehe.“
Er stand auf und ging durch das Zimmer. An der Tür dort hinten machte er halt, wandte sich um und trat einen Augenblick unruhig von einem Fuß auf den anderen. Und dann begab es sich, dass er, fünfzehn oder zwanzig Schritte von ihr entfernt, auf seine Knie sank, lautlos auf beide Knie. Sein langer, schwarzer Gehrock breitete sich auf dem Boden aus. Er hielt die Hände über seinem Munde gefaltet, und seine Schultern zuckten.
Sie saß, die Hände im Schosse, vornübergelehnt, vom Klavier abgewandt, und blickte auf ihn. Ein ungewisses und bedrängtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und ihre Augen spähten sinnend und so mühsam ins Halbdunkel, dass sie eine kleine Neigung zum Verschießen zeigten.
Aus weiter Ferne her näherten sich Schellenklappern, Peitschenknall und das Ineinanderklingen menschlicher Stimmen.
Die Schlittenpartie, von der lange noch alle sprachen, hatte am 26. Februar stattgefunden. Am 27., einem Tauwettertage, an dem sich alles erweichte, tropfte, planschte, floss, ging es der Gattin Herrn Klöterjahns vortrefflich. Am 28. gab sie ein wenig Blut vor sich… oh, unbedeutend; aber es war Blut. Zu gleicher Zeit wurde sie von einer Schwäche befallen, so groß wie noch niemals, und legte sich nieder.
Doktor Leander untersuchte sie, und sein Gesicht war steinkalt dabei. Dann verordnete er, was die Wissenschaft vorschreibt: Eisstückchen, Morphium, unbedingte Ruhe. Übrigens legte er am folgenden Tage wegen Überbürdung die Behandlung nieder und übertrug sie an Doktor Müller, der sie pflicht- und kontraktgemäß in aller Sanftmut übernahm; ein stiller, blasser, unbedeutender und wehmütiger Mann, dessen bescheidene und ruhmlose Tätigkeit den beinahe Gesunden und den Hoffnungslosen gewindmet war.
Die Ansicht, der er vor allem Ausdruck gab, war die, dass die Trennung zwischen dem Klöterjahnischen Ehepaar nun schon recht lange währte. Es sei dringend wünschenswert, dass Herr Klöterjahn, wenn sein blühendes Geschäft es gestatte, wieder einmal zu Besuch nach „Einfried" käme. Man könnte ihm schreiben, ihm vielleicht ein kleines Telegramm zukommen lassen. Und sicherlich werde es die junge Mutter beglücken und stärken, wenn er den kleinen Anton mitbringen würde: abgesehen davon, dass es für die Ärzte geradezu interessant sein werde, die Bekanntschaft dieses gesunden kleinen Anton zu machen.
Und siehe, Herr Klöterjahn erschien. Er hatte Doktor Müllers kleines Telegramm erhalten und kam vom Strande der Ostsee. Er stieg aus dem Wagen, ließ sich Kaffee und Buttersemmeln geben und sah sehr verdutzt aus. „Herr“, sagte er, „was ist? Warum ruft man mich zu ihr?“
„Weil es wünschenswert ist“, antwortete Doktor Müller, „dass Sie jetzt in der Nähe Ihrer Frau Gemahlin weilen.“
„Wünschenswert… Wünschenswert… Aber auch notwendig? Ich sehe auf mein Geld, mein Herr, die Zeiten sind schlecht, und die Eisenbahnen sind teuer. War diese Tagesreise nicht zu umgehen? Ich wollte nichts sagen, wenn es beispielsweise die Lunge wäre; aber da es Gott sei Dank die Luftröhre ist…"
„Herr Klöterjahn“, sagte Doktor Müller sanft, „erstens ist die Luftröhre ein wichtiges Organ…“ Er sagte unkorrekterweise „erstens“, obgleich er gar kein „zweitens“ darauf folgen ließ.
Gleichzeitig aber mit Herrn Klöterjahn war eine üppige, ganz in Rot, Schottisch[54] und Gold gehüllte Person in „Einfried“ eingetroffen, und sie war es, die auf ihrem Arme Anton Klöterjahn den Jüngeren, den kleinen, gesunden Anton trug. Ja, er war da, und niemand konnte leugnen, dass er in der Tat von einer exzessiven Gesundheit war. Rosig und weiß, sauber und frisch gekleidet, dick und duftig lastete er auf dem nackten, roten Arm seiner betressten Dienerin, verschlang gewaltige Mengen von Milch und gehacktem Fleisch, schrie und überließ sich in jeder Beziehung seinen Instinkten.
Vom Fenster seines Zimmers aus hatte der Schriftsteller Spinell die Ankunft des jungen Klöterjahn beobachtet. Mit einem seltsamen, verschleierten und dennoch scharfen Blick hatte er ihn ins Auge gefasst, während er vom Wagen ins Haus getragen wurde, und war dann noch längere Zeit mit demselben Gesichtsausdruck an seinem Platze verharrt.
Von da an mied er das Zusammentreffen mit Anton Klöterjahn dem Jüngeren so weit als tunlich.
Herr Spinell saß in seinem Zimmer und „arbeitete“.
Es war ein Zimmer wie alle in „Einfried“: altmodisch, einfach und distinguiert. Die massige Kommode war mit metallenen Löwenköpfen beschlagen, der hohe Wandspiegel war keine glatte Fläche, sondern aus vielen quadratischen, in Blei gefassten Scherben zusammengesetzt, kein Teppich bedeckte den bläulich lackierten Estrich, in dem die steifen Beine der Meubles als klare Schatten sich fortsetzten. Ein geräumiger Schreibtisch stand in der Nähe des Fensters, vor welches der Romancier einen gelben Vorhang gezogen hatte, wahrscheinlich, um sich innerlicher zu machen.
In gelblicher Dämmerung saß er über die Platte des Sekretärs gebeugt und schrieb – schrieb an einem jener zahlreicher Briefe, die er allwöchentlich zur Post befördern ließ und auf die er belustigenderweise meistens gar keine Antwort erhielt. Ein großer, starker Bogen lag vor ihm, in dessen linkem oberem Winkel unter einer verzwickt gezeichneter Landschaft der Name Detlev Spinell in völlig neuartigen Lettern zu lesen war und den er mit einer kleinen, sorgfältig gemalten und überaus reinlichen Handschrift bedeckte.
„Mein Herr!“ stand dort. „Ich richte die folgenden Zeilen an Sie, weil ich nicht anders kann, weil das, was ich Ihnen zu sagen habe, mich erfüllt, mich quält und zittern macht, weil mir die Worte mit einer solchen Heftigkeit zuströmen, dass ich an ihnen ersticken würde, dürfte ich mich ihrer nicht in diesem Briefe entlasten…“
Der Wahrheit die Ehre zu geben, so war dies mit dem „Zuströmen“ ganz einfach nicht der Fall, und Gott wusste, aus was für eitlen Gründen Herr Spinell es behauptete. Die Worte schienen ihm durchaus nicht zuzuströmen; für einen, dessen bürgerlicher Beruf das Schreiben ist, kam er jämmerlich langsam von der Stelle, und wer ihn sah, musste zu der Anschauung gelangen, dass ein Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer fällt als
53
Pianissimo – пианиссимо, очень тихо
54
Schottisch gekleidet – одета шотландку, то есть в одежду из ткани в клетку