Der Hungerturm. Michael Thumser
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Wann?
Damals.
Ach so.
Du hast es noch nicht vergessen.
Doch, sagte sie. Fast. Ich bin dir nicht böse.
Sie schwiegen beide eine Weile. Dann fügte sie hinzu:
Und jetzt ist ja alles wieder so wie früher, und sah ihm forschend ins Gesicht.
Eben, stimmte er zu und lächelte. Manchmal beinahe.
In der Nacht vor seinem ersten Examen schliefen sie beide nicht. Gegen Morgen sah er auf die Uhr: in einer Stunde würde er aufstehen müssen, ohne ein Auge zugetan zu haben. Da kroch er zu ihr herüber und legte den Kopf auf ihre Brust, und sie strich ihm langsam über das Haar. Er hatte Angst; aber sie sagte ihm nicht, dass sie es wusste.
Nach der letzten Prüfung holte sie ihn im Auto ab. Als er eingestiegen war, sagte sie:
Wir müssen es feiern. Wohin wollen wir fahren?
Er aber fragte, ob sie böse wäre, wenn er sich zu Hause erst einmal ausruhe. Danach könne man immer noch sehen.
Eine Woche später kam er ins Wohnzimmer und hatte seine Tasche in der Hand.
Es ist doch besser, wenn ich gehe, sagte er.
Ja, sagte sie. Vielleicht wäre es damals schon besser gewesen.
DIE HEIMLICHE JAGD
… es ist schwer für jemanden, der einmal an geistiger Krankheit litt, mit einem Gesunden Mitleid zu haben …
F. Scott Fitzgerald,
ZÄRTLICH IST DIE NACHT
1
An diesem Morgen wie an den Morgen zuvor hatte er Mühe, aus dem Bett zu kommen. Die Augen waren verklebt, der schlechte Geschmack im Mund war diesmal noch unangenehmer als sonst, und sein Körper fühlte sich blass an, zerdrückt und schmerzempfindlich. Christine war in der Küche, Winberg hatte nicht gehört, wie sie aufgestanden war, aber jetzt hatte ihn wohl das Geklapper der Tassen und des Bestecks geweckt. Weil Christine die Rollos erst nach dem Frühstück hochzog, war das Schlafzimmer noch düster; so konnte Winberg die Uhrzeit auf dem Wecker nicht erkennen.
Christine trug ein Tablett ins Wohnzimmer, und als sie damit an der offen stehenden Schlafzimmertür vorbeikam, rief sie ihm zu: Steh auf, es ist schon spät.
Wie spät?
Viertel acht.
Winberg drehte sich langsam aus dem Bett, zog die Brauen über den fast geschlossenen Augen hoch und machte ein dummes Gesicht. Seine Füße tasteten nach den Pantoffeln. Christine kam herein und begann, die Bettdecken aufzuschütteln.
Morgen, sagte sie.
Morgen, wiederholte er, stand auf und gab ihr einen müden Kuss auf die Wange.
Geh und rasier dich, sagte sie aufmunternd.
Beim Frühstück machte ihn der Kaffee nur langsam wacher. Winberg überflog die Schlagzeilen der Zeitung, ohne etwas aufzufassen, und bestrich sich ein Brötchen schlampig mit Butter und Honig.
Du gehst in letzter Zeit zu spät ins Bett, sagte Christine. Jeden Morgen bis du todmüde.
Er nickte und brummte irgendetwas, das nicht verstanden werden sollte.
Später, im Lift, wurde ihm kurz wieder klar, dass ihm diese Morgen mit Christine etwas bedeuteten. Er nahm sie, die mit einer Tasche in der Hand neben ihm stand, in den Arm und küsste sie rasch. Sie tat, als verstünde sie ihn nicht, und nahm seine Zärtlichkeit wie selbstverständlich. Seine Zärtlichkeiten kamen immer plötzlich, immer unvermutet, und sie kamen nie selbstverständlich. Aber sie spürte manchmal – aus einem Satz, oder durch die Art, wie er sie am Arm nahm –, wie sehr er sich anstrengte, sie fühlen zu lassen, dass er sie liebte.
Bis heute Abend, sagte sie vor der Eingangstür und sah ihm absichtlich mit großen Augen ins verschlossene Gesicht.
Bis dann, sagte er und strich ihr übers Ohr.
Dann nahmen sie zwei verschiedene Richtungen: sie zum Supermarkt, der sich im Erdgeschoss eines der benachbarten Hochhäuser befand; und er ging den Weg durch Grünanlagen und Parkplätze aus dem Hochhausviertel hinaus zur Bushaltestelle.
Dass sie immer noch hier leben mussten!, ging es ihm durch den Kopf. Architekt sein, aber keinen realistischen Gedanken an ein eigenes Haus verschwenden dürfen; verantwortlich sein für alles Mögliche, für dies und das geradestehen sollen und dabei vielleicht nie sein eigener Herr werden können; immer einen oder zwei oder noch mehr über sich haben. Manchmal verspürte er mitten am Tag die Lust, sich irgendwo hinzulegen und keinen Finger mehr zu rühren. Manchmal hätte er Lust, laut und unsinnig herumzuschreien, wo gerade geschwiegen wurde. Manchmal wollte er schon ausholen, um alles um sich herum zu zerschlagen, Computertastatur und Zeichengerät in die Ecke zu schleudern, mit den Ausdrucken von Grundrissen fremder Häuser ein gigantisches Feuer zu entfachen. Manchmal kam es wenigstens dazu, dass er mit der flachen Hand auf den Arbeitstisch schlug, sodass die Finger brannten, und dass er fluchte. Gleich darauf war er dann jedes Mal froh, dass es niemanden interessierte, wenn er sich für kurze Zeit einmal nicht beherrschen konnte, dass keiner ihn fragte, was in ihn gefahren sei, dass ihm niemand den Lärm vorwarf, den er gemacht hatte. An diesem Tag wie an jedem anderen sehnte er sich danach, dass irgendetwas Außergewöhnliches geschehe, ohne daran zu glauben, dass es wirklich eintreten könne. Er hoffte, einmal irgendwo dabei zu sein: sich bei einem furchtbaren Verkehrsunfall als Retter zu bewähren, oder mitzuerleben, wie einem Politiker der Kopf weggeschossen wurde, und dem Attentäter dann ein Bein zu stellen und sich auf ihn zu stürzen, oder den Vergewaltiger einer Frau von seinem Opfer wegzureißen und in die Flucht zu prügeln. Als er noch ein Junge war, hatte er sich immer wieder Situationen vorgestellt, aus denen er als Held hervortreten könnte. Heute genügte es ihm, sich in Gedanken des dankbaren Respekts, der Anerkennung eines fremden Menschen zu versichern. Mit Christine hatte er nie über seine Flausen gesprochen. Sie lebte viel zu sehr in der Wirklichkeit, als dass sie über solche Kindereien nicht würde lachen müssen. Aber manchmal las er ihr aus einer Illustrierten Geschichten vor von Menschen, die so waren, wie er sein wollte: im Alltag mutig, für jemand anderen notwendig, konsequent und zu einem bestimmten Augenblick am richtigen Ort, um etwas zu tun, das nützte.
Winbergs Tag begann in gereizter Stimmung mit einer Besprechung seiner Chefs und jener Mitarbeiter, die an dem Großprojekt beteiligt waren, das schon seit einem halben Jahr im Mittelpunkt umfangreicher Planungsarbeiten stand. Die Leiter der Firma gaben sich unleidlich, aber hinter der Unzufriedenheit mit dem bisher Geleisteten verbarg sich letztlich ein gewisser Gleichmut, ja Desinteresse. Dabei gingen die Arbeiten besser voran, als noch vor Wochen zu erwarten gewesen war. Zwei Stunden lang also machte man sich voreinander wichtig, hob den eigenen Ertrag hervor und drängte die Beiträge anderer zurück, wetteiferte mit mehr oder weniger nebensächlichen Vorschlägen und Anträgen und stritt um Dinge, die noch längst nicht spruchreif waren.
Nachdem Winberg mit ein paar kaum beachteten Worten seine Ergebnisse aus den vergangenen Tagen referiert hatte, zog er sich an eine Wand des Konferenzzimmers zurück und lenkte seine Gedanken auf alles mögliche andere. Nach einer Viertelstunde war er so gleichgültig geworden, dass sich seine Laune besserte. Er versuchte sich auf etwas zu besinnen, worauf er sich freute. Viel war da