Der Hungerturm. Michael Thumser
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Später trank Winberg auf der Terrasse Kaffee, ein paar Tische von Kryger und seinen Freunden entfernt in einer kaum einzusehenden Nische. Er belauschte, wie drüben die letzten Augenblicke bemühter Gefälligkeit vorübergingen und wie man sich bald wieder so verstand, als habe man schon ein, zwei gemeinsam verbrachte Wochen hier am Strand hinter sich. Ein paar Herren wollten Kryger überreden, mit ihnen Tennis zu spielen; aber er lehnte ab. Er wolle sich ausruhen, seine Sachen ordnen und, gegen Abend, einen langen Spaziergang den Strand hinauf und hinunter machen. Allein, antwortete er in das vielwissende Grinsen seiner Freunde hinein, die sich nicht beirren ließen. Für den Abend immerhin verabredeten sie, das Wiedersehen in einem Club im Ortsinneren gebührend zu begießen. Dann trennten sie sich.
Wenig später stand Winberg vor Krygers Tür, ganz so wie zwei Tage zuvor in der Klinik; nur dass er diesmal das Entwürdigende, Unappetitliche seiner Situation genauer empfand. Der Gang zwischen den Zimmern war um diese Zeit menschenleer, die meisten Hotelgäste waren beim Sport oder zum Schwimmen am Meer oder tranken in einer der Bars. Winberg kam sich wie ein kleiner Junge vor, dem es auf Schleichwegen gelungen war, sich in eine nur für Erwachsene zugelassene Kinovorstellung zu schmuggeln.
Er lehnte den Rücken an die Wand neben der Tür. Sein Körper war in vollständiger Tatenlosigkeit erschlafft. Nach außen mochte Winberg den Eindruck eines enttäuschten Mannes erwecken, der von jemandem versetzt worden war. In seinem Kopf aber war alles voller Konzentration, und seine Ohren waren so sensibel geworden, dass die Stirn vor Anstrengung schmerzte.
Im Zimmer schmeichelte Krygers weiche, bewegliche Stimme, und die Stimme des Mädchens erwiderte ebenso anhänglich, zierte sich ein wenig, tat, als wäre sie noch ein bisschen weiter vom Ziel entfernt als die Krygers. Eine Flasche wurde auf den Tisch gestellt, und Gläser klangen aneinander. Dann blieben ein paar Augenblicke lang die Worte aus, Winberg meinte, das leise Rascheln eines Kleiderstoffs zu hören, das Reiben von Haut an Haut, das Knistern elektrisierten Haars. Krygers Sprechgesang war jetzt wie sein Lächeln, eine äußerliche Geste, dabei manchmal schonend sanft, dann langsam drängender, härter, deutlicher. Aber noch wollten ein paar Minuten abgewartet sein. Winberg spürte, wie Krygers Worte hinter freundlicher Maske allmählich ungeduldige Mienen machten, wie sie weniger und weniger meinten, was sie sagten, wie allein ihr Klang Hinweise gab auf die fällig gewordene Einlösung einer Vereinbarung, die schon lange vorher abgemachte Sache gewesen war.
Wenig später herrschte Einigkeit, und die Worte kamen wieder gelöst und spielerisch, wobei es immer weniger wurden. Und nun endlich drangen die Laute einer wachsenden Anstrengung zu Winberg, ein Stöhnen, das etwas Flehendes hatte. Krygers Stimme war sich ihrer Sache jetzt nicht mehr so sicher, etwas in ihr stand infrage. Dann kam wieder der fordernde Ton, mit dem Kryger zu dem Mädchen sprach, aber anders als vorhin, mit einer Anspielung von Hoffnungslosigkeit. Es war, als stellte er Ansprüche, müsste aber Widerstand befürchten, als erteilte er Befehle, von denen er nicht wusste, wie sie ausgeführt würden. In seiner Bereitschaft war jetzt Angst wach geworden, sie ließ seine Lüsternheit nur zögernd wachsen, bald hatte er seine Selbstsicherheit ganz und gar verloren und hörte sich schließlich bittend an wie einer, der sich nicht genug zutraut und darauf bedacht ist, sich nicht zu viel zuzumuten.
Winberg hatte nicht Verachtung genug und kein Mitleid mit Kryger. Und doch meinte er plötzlich, er müsse sich und ihm ersparen, was folgen musste. Er kam sich lächerlich vor in seinem Versteck, das keines war, er wollte sich abwenden und fortgehen, als ein Zimmermädchen von irgendwoher auf ihn zukam und ihn überrascht ansah. Winberg machte eine verlegene Bewegung und ging mit langsamen Schritten den Gang hinunter. Das Mädchen klopfte an Krygers Tür, und von drinnen schrie es heiser:
Hier können Sie nicht rein.
Das Mädchen starrte Winberg mit dem Abscheu eines Menschen nach, der einer schmuddeligen Affäre auf die Schliche gekommen ist, die lange verborgen geblieben war.
Ist es aussichtslos?, fragte Winberg in sein Handy.
Das nicht, sagte der Stationsarzt. Ich möchte sie vor zu viel Pessimismus warnen, aber auch vor zu großen Erwartungen.
Wird sie sich wieder bewegen können?
Wenn sie erst einmal aufgewacht ist …, sagte der Arzt. Wir müssen sehen, ob sie überhaupt sprechen kann. Wir dürfen zunächst schon zufrieden sein, dass momentan keine akute Lebensgefahr besteht. Alles Weitere …
Dann folgten ein paar versöhnliche Sätze, die Winberg nicht verstehen wollte. Es gab also nichts zu sagen; der andere wusste nicht mehr als er selbst. Sie beide waren, durch ein Telefon verbunden und getrennt, gemeinsam allein. Nach einer Weile, in der sie ihre Machtlosigkeit mit Schweigen gebüßt hatten, verabschiedeten sie sich.
Winberg, in einer unauffälligen Ecke der Bar an einem Tischchen sitzend, musste über eine Stunde warten, bis Kryger von seinem abendlichen Ausflug zurückkehrte. An Krygers Arm stöckelte das Mädchen, geschickt geschminkt und routiniert lächelnd. Die beiden gingen durchs Lokal, mal hierhin, mal dorthin grüßend, und nahmen endlich an einem großen runden Tisch Platz, an dem während der halben Stunde zuvor nach und nach die anderen Paare Platz genommen hatten.
Sofort als Kryger saß, war er der Mittelpunkt der Runde, die rasch in ein reges Gespräch verfiel, oft lachte und immer wieder Wein, Bier und Schnaps bestellte. Es schien Winberg, als gelte der soigniert-ruhige Kryger für einen Richter richtiger Meinungen und guten Geschmacks. Meistens wurde er etwas gefragt und gab dann weitschweifig Auskunft, Kenntnisse und Korrekturen äußernd, die er mit artigem Lächeln bescheiden vortrug. Winberg konnte von seinem Platz aus großen Teilen des Gesprächs folgen, wenn er aufmerksam hinhörte, und spürte bald, dass für die anderen von Kryger, der unter ihnen augenscheinlich der Älteste war, ein besonderer Reiz ausging. Man sprach über die Theaterspielpläne großer Städte, später, ausführlicher, über schwankende Banken und Unternehmen, diskutierte die Krisen der Börse. Dann wandte man sich den anwesenden Damen zu und hofierte sie mit kleinen, blasierten Komplimenten. Jeder an diesem Tisch hatte Erfahrung mit dem Charme alter Schule und seinem gezielten, wohldosierten Einsatz, mit dem richtigen Ton dem jeweiligen Gesprächspartner gegenüber, mit der feinen Nuance der Anspielung. Winberg wollte das alles vorkommen wie ein Ausschnitt aus einem alten Film, wie der Blick in ein Wörterbuch aus einer Zeit, die schon lange vor seiner Geburt zusammengefallen war. Hierher, in die angestrengt vornehme Atmosphäre des Seebads, hatte sich von solchen Resten der Vergangenheit noch etwas retten können, und diejenigen, die sich darin zu Hause fühlten, pflegten die Traditionen wie unfehlbar folgerichtige Rituale. Die jungen Frauen, die bei den Herren saßen, schienen nicht wirklich zu ihnen zu gehören. Sie saßen dabei, weil die Männer erst mit ihnen ein Bild ergaben, das sie für gültig halten durften. Und sie wurden dafür entlohnt, dass man ihnen nicht ansah, wenn sie sich langweilten.
Winberg fühlte mit einem Mal etwas wie leise Genugtuung in sich: indem er die Runde so schamlos belauschte, indem er sie derart durchschaute, meinte er zu wissen, wie sehr er sie demütigte.
Ein paar Stunden gingen so hin. Die Gesellschaft am runden Tisch konsumierte eine Flasche nach der anderen, und auch Winberg hatte mit der Zeit viel getrunken. Während die Stimmung der Runde immer gelöster, die Gespräche allmählich freizügiger wurden, spürte Winberg eine wachsende Klarheit in seinem Kopf, eine Gewissheit, dass richtig war, notwendig und gut, was er seit zwei Tagen tat, obwohl er nach wie vor nicht hätte sagen können, worauf er hinauswollte. Er fühlte sich auf der Spur, ohne zu wissen, wer das war, dem er folgte, und warum er es tat; er fühlte sich bereit, jederzeit abzudrücken, obwohl er sich ohne Waffe wusste;