Der Hungerturm. Michael Thumser
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Nach Mitternacht wurden die Kellner und Ober unruhig, und einer spielte hin und wieder an einem der Lichtschalter. Außer mit ein paar ärgerlichen Blicken des einen oder anderen reagierte die Gesellschaft am runden Tisch nicht darauf. Die Mädchen waren träge und still geworden, ab und zu fiel ein Kopf auf einen reichlichen, dekolletierten Busen. Winberg hatte an diesem verlorenen Abend Beobachtungen gewonnen, die er verbuchte wie einen Besitz: mit Kryger lernte er mehr und mehr jemanden kennen, den er nicht ausstehen konnte, den er hassen wollte, indem er nach Anhaltspunkten suchte, die sein verdammendes Vorurteil gegen ihn bestätigen sollten.
Als nach ein Uhr der Barkeeper und ein Mann aus der Küche die Stühle hochzustellen begannen, erhoben sich die schwankenden Gestalten mit dem großtuerischen Gerede alt gewordener, früherer Anstößigkeit nachtrauernder Junggesellen, griffen ihren Damen an Brust und Hintern und strengten sich an, einem Kellner klar zu machen, dass nun drei Taxis zu bestellen seien. Winberg hatte schon vor einer Viertelstunde gezahlt und wartete nun in der Nische, die als Garderobe diente, bis die anderen die Bar verlassen hatten.
Als er selbst in die Nacht hinaustrat, schlug ihm ihre ungewöhnlich klare und reine Luft wie eine Hand ins Gesicht. Plötzlich vermisste er das Siegergefühl, das ihn drinnen über Stunden hinweg hellwach gehalten hatte. In ein paar Augenblicken hatte die Müdigkeit ihn eingeholt. In seinem Zimmer setzte er sich im Mantel auf einen Stuhl und schlief sofort ein, ohne es zu merken. Nach einer Stunde wachte er langsam auf; er fror, und der Kopf tat ihm weh. Er zog sich aus, wusch sich flüchtig und legte sich aufs Bett. Jetzt aber lag er, über eine Stunde lang, mit offenen Augen und ärgerte sich immer heftiger über seine Schlaflosigkeit.
Am Sonntag schlief Kryger bis in den Vormittag, und Winberg, der schon früh aufgestanden war und sich in einen Sonnenstuhl auf der Terrasse gelegt hatte, musste lange auf ihn warten. Kryger wirkte, als er endlich herunterkam, völlig erfrischt. Jetzt, ohne Begleitung, hatte sein Gesicht nichts von einer Maske, locker erschien es, so beweglich wie vor zwei Tagen beim Spaziergang durch den Park und während seines Aufenthalts in der Kirche. Kryger trank Kaffee, ohne etwas zu essen; dann schlenderte er fort, anscheinend ziellos, ließ den Blick mal hier-, mal dorthin schweifen, wie einer, der alles schon gefunden hat, was er in seinem Leben je hatte suchen können, und der mit keiner bösen Überraschung mehr zu rechnen braucht.
Winberg legte ein paar Münzen auf den Tisch und ging ihm nach. Fast bewunderte er die Leichtigkeit des Gangs, die ruhige Bewegung der Arme, die Zartheit der Finger, zwischen denen Kryger versonnen einen Grashalm drehte.
Kryger ging in den Ort und schloss sich ein paar anderen Wochenendurlaubern an, um in der Kirche eine spätvormittägliche Messe zu besuchen. Während des Gottesdienstes stand er an einer der Wände der einfachen, kleinen Halle, sah meist zu Boden und schien ganz aufgegangen in dem, was vor ihm geschah. Winberg war auf die schmale Orgelempore hinaufgestiegen und blickte von oben auf die Köpfe der Gläubigen. Nach der Messe, als die Besucher aufstanden, um hinauszugehen, wollte auch Winberg die Treppe hinuntersteigen, sah aber, dass Kryger bewegungslos an seinem Platz stehen geblieben war und auf etwas zu warten schien. Nach einer Weile trat der Geistliche aus einem winzigen Nebenraum wieder ins Kircheninnere, und Kryger ging mit wenigen großen Schritten, mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, hielt ihn an und sprach mit ihm, nachdem er eine fast jungenhafte Verbeugung gemacht hatte. Dann verschwand jeder von beiden in einer der Seiten eines Beichtstuhls.
Im Hotel wurde Kryger von seiner Begleiterin erwartet. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, schob die Sonnenbrille aufs Haar und küsste ihn, während seine Muskeln im Nacken, an seinen Armen und Beinen sich spannten. Mit einem höflichen Lächeln zeigte er seine Zähne, und nach wenigen Augenblicken war aus ihm ein anderer geworden. Aber wer? Ganz der Alte?
Auch im Restaurant, beim Mittagessen, behielt Winberg Kryger und das Mädchen im Auge, beobachtete, wie er ihr mit der Vollendung eines Küchenchefs vorlegte, wie er eingoss und mit ihr anstieß, wie er unermüdlich neue Worte fand, um sie zu unterhalten. Später setzten sich zu den beiden zwei Männer aus der gestrigen Runde, die ohne Begleitung kamen. Jetzt taten sie zu dritt der Schönen schön, warben um sie mit der Eindeutigkeit von Gigolos und strahlten, wenn sie ihretwegen lachte.
Nachdem sie sich schließlich voneinander verabschiedet hatten, und während Kryger und das Mädchen auf den Ausgang zur Halle zugingen, hörte Winberg ihn in der Nähe seines Tisches zu ihr sagen:
Die beiden haben sich genug zum Narren gemacht. Lass uns auf mein Zimmer gehen.
Sie schmiegte sich an ihn, und er führte sie mit sich fort mit dem Gesicht eines erfahrenen Mannes, der freiwillig eine opfervolle Mühe auf sich nimmt.
Am Nachmittag kam die vollständige Runde in der Halle zusammen und begrüßte sich aufwendig, bevor sie alle das Hotel verließen, um zu einer der Sportanlagen hinüberzugehen, die dazugehörten. Hier machten sie mit einer Runde Minigolf den Anfang, vor allem wohl der Damen wegen, die sich betont umständlich und unbeholfen gaben.
Solange die Männer in den Umkleidekabinen ihre Tennissachen anzogen, standen die Frauen wartend beieinander, über Minuten so gut wie wortlos. Und erst, als ihre Begleiter in ihren Dresses auf die Plätze liefen, auf der Stelle tretend die Rackets prüften und die Seiten der Spielfelder auslosten, lehnten die Mädchen, die alle nur einen Namen, nur eine Persönlichkeit zu haben schienen, sich gegen den Zaun, setzten alle das gleiche Lächeln auf und reichten einander belanglose Sätze weiter.
Während des Spiels taten die Männer so, als wären sie es gewohnt, tagtäglich im Sport ihr Bestes zu geben. Sie warfen fachmännische Bemerkungen hin und her, lockerten in regelmäßigen Abständen die Gliedmaßen und sahen immer wieder einmal nach dem Stand der Sonne. Winberg, der sich zwischen den Kabinen und einem Schiedsrichterstuhl verborgen hielt, sah den Männern zu, die allesamt gut spielten, beobachtete, wie sich ihre Wadenmuskeln rhythmisch zusammenzogen, wie sie aus zurückgebogenem Körper den Ball zum Aufschlag in die Luft warfen und ihn dort für den Bruchteil einer Sekunde stehen ließen, bevor sie ihm ächzend einen schmatzenden Hieb versetzten, wie sie gleich danach halb in die Hocke fielen, nervös lauernd und von einem Fuß auf den andern trippelnd, wie sie zwischendurch den Mädchen winkten, die nach jedem gewonnenen Ball applaudierten und jubelten. Kryger verlor nur einmal und erntete die Anerkennung aller. Aus dem hinter verschlossener Tür keuchenden, sich hilflos abarbeitenden Mann von gestern Nachmittag war so etwas wie ein Held, wie ein Sieger geworden.
So ging er schwimmen.
Die Runde ging nach kurzem Abendessen auseinander, und jeder hatte seine eigene Richtung.
Vielleicht wieder im Oktober,
rief man sich bei den Autos noch zu, und:
Muss erst mal sehen, obs da klappt.
Als Winberg zurückfuhr, tat er es mit der bewusstlosen Sicherheit eines Automaten, mit einer Genauigkeit des Steuerns, Kuppelns, Schaltens, mit einer Schnelligkeit der Reaktion, die er in wachem Zustand nie über sich gebracht hätte. Er sah sich wie einen anderen an Stationen dieses und des vergangenen Tages, wie jemanden, der in teilnahmsloser Betrachtung vor Bildern steht, die erfunden und kaum glaubhaft sind und nie wirklich werden. Er sah sich, fast beschämt, Dinge tun, die er nie zuvor getan hatte und die ihm bisher unvorstellbar erschienen waren: sah sich vor einer Hotelzimmertür die Vereinigungsversuche eines abgelebten Fremden belauschen; sah sich teilhaben an den Witzeleien einer Altherrenrunde, die mehrere Brieftaschenfüllungen investierte in ein paar Stunden mit ernüchternden Amüsements; sah sich, der seit Jahren keinen Sportplatz mehr besucht hatte, die Resultate einiger gezierter Tennisrunden vermerken.
Ihm war im Nachhinein, als hätte er nichts anzufangen gewusst mit sich, als hätte er den Anblick und das hektische, atemlose Tätigsein der albernden anderen gebraucht, um seine eigene Zeit herumzubringen. Winbergs Unzufriedenheit wuchs, als er erkennen