Der Hungerturm. Michael Thumser

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Der Hungerturm - Michael Thumser

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hob die Hand, von der er auf einmal wusste, dass sie etwas festhielt, das Bund Schlüssel, an dem sich die nervösen Finger bisher in der Jackentasche festgehalten hatten.

      Du hast ihn gestellt. Die Jagd ist vorüber. Was jetzt? Doch ehe er zu Ende gedacht hatte, bewegte sich die gefüllte Hand mit äußerster Wucht und grausamer Geschwindigkeit, die Winberg unendlich langsam vorkam, und prallte gegen Krygers Ohr, einmal, zweimal. Winberg spürte den Blitz eines schrecklichen Schmerzes in seiner Hand und spürte, wie unter ihr fremde Haut zerschliss, wie Knochen nachgab, er sah Kryger mit vor Überraschung durchsichtigem Gesicht aus der Bank taumeln. Noch ein Stoß gegen die Brust: Kryger blies die Backen auf, eine Haartolle schwang in die Stirn, die Augen traten ein wenig aus den Höhlen. Als Krygers Kopf gegen die Kante einer Altarstufe schlug, klang sein Platzen wie das einer schweren Riesenfrucht, die zu Boden fällt.

      Unbestreitbar, dass jetzt etwas geschehen war. Und Winberg hatte etwas dergleichen gewollt; wahrscheinlich; vielleicht.

      Ich wollte das nicht, hörte er sich mit mechanischer Stimme sagen.

      Der Priester sah zu ihm auf. Er hatte Blut an den Händen, zwischen den Fingern, an den Manschetten des Hemdes und den Revers seines Anzugs.

      Ich wollte das nicht.

      Der Pfarrer stieß einen wie angewurzelt stehenden Kirchendiener an. Schnell, sagte er unerwartet ruhig, sorgen Sie für einen Krankenwagen. Und zu Winberg, mit der belehrenden Stimme eines erprobten Sanitäters: Wir dürfen ihn nicht bewegen; der Kopf scheint schwer verletzt.

      Der Kirchendiener kam wieder gelaufen. Der Geistliche ließ Winberg neben Kryger stehen und schob die wenigen Menschen, die sich erschrocken um sie versammelt hatten, aus der Kirche. Dann gab er dem Mesner ein paar Anweisungen, nahm Winberg mit einer seiner blutigen Hände, mit einer routinierten Bewegung sacht am Arm und führte ihn mit sich fort in die Sakristei.

      Was dieser Fall für Sie bedeutet, wissen Sie wohl, sagte er nüchtern zu Winberg und wischte sich mit einem Taschentuch sorgfältig die Hände ab.

      Ich weiß, sagte Winberg.

      Vor allem: Beruhigen Sie sich, sagte der Pfarrer unvermittelt.

      Ich bin ganz ruhig.

      Es wird eine Untersuchung geben. Viele lange Vernehmungen. Und natürlich den Prozess.

      Ja.

      Und Sie stehen … nicht gerade gut da, fuhr der Pfarrer fort.

      Ja.

      Was?

      Ich stehe nicht gut da, sagte Winberg. Ihm war, als hätte er in den vergangenen Minuten kein einziges Mal geatmet.

      Vor dem halb offenen Fenster stand blendende Luft. Draußen war alles bewegungslos, als ruhte das Leben. Um die Mittagszeit mochten sich selbst die Fliegen keine Mühe mehr geben. Alles schien sich trotzig vor der Sonne zurückgezogen zu haben.

      Der Pfarrer sagte, nachdem er sich hingesetzt und den immer noch stehenden Winberg lange gemustert hatte: Ich kann Sie natürlich nicht hier festhalten.

      Ich gehe nicht fort, antwortete Winberg. Ich werde mich selbstverständlich stellen, fügte er hinzu, scheinbar fest. In Wahrheit aber war er konfus, und die Worte kamen von irgendwoher fast automatisch in seinen Mund.

      Als sie von draußen das Fahrzeug des Roten Kreuzes hörten und kurz darauf die Sirene eines Polizeiwagens dazukam, sah Winberg zum Fenster, durch das die zähe, muffige Sommermittagsluft in den schattigen Raum floss. Winberg tat ein paar Schritte auf das Fenster zu.

      Bleiben Sie noch, sagte der Geistliche hastig und machte eine angespannte Geste.

      Winberg musste lächeln. Ich geh nicht fort, sagte er wieder und legte die Fensterflügel zusammen. Der Pfarrer entkrampfte sich.

      Vielleicht kann ich Ihnen …, begann er langsam, helfen … in gewisser Weise.

      Kaum, gab Winberg zurück.

      Ich kenne ja nicht einmal Ihren Namen, geschweige denn den Grund ihrer – Tat. Aber in meinem Beruf sammelt man Geschichten vieler ganz unterschiedlicher Menschen, und …

      So?, sagte Winberg trocken. Geschieht dergleichen häufiger in dieser Kirche? Er hatte jetzt wenigstens keine Angst mehr und meinte, sich eine Zeit lang auf seine Ruhe verlassen zu können.

      Unbeirrt fuhr der Pfarrer fort: Immerhin hab ich gesehen, was Sie getan haben. Ich habe den wichtigsten Augenblick in Ihrem Leben miterlebt. Dann, gedehnter: Mit-erlebt – ja, buchstäblich.

      Winberg blieb dabei, zu schweigen.

      Ich habe nur zu oft mit Menschen zu tun, die sich in kritischen oder ausweglosen Situationen befinden.

      In Winbergs Ohren klang, was der Priester sagte, merkwürdig lustlos: ein geschäftsmäßiger Text, vor Jahren einstudiert, ohne dass der Sprecher noch wusste, wessen Rolle er aufsagte.

      Nach einer Pause verkündete der Pfarrer unbewegt: Ich gehe jetzt hinaus und rufe die Polizei herein. Dabei sah er Winberg von unten herauf an, als ob noch etwas zu sagen wäre.

      Winberg nickte.

      Der Pfarrer stand auf. Eine merkwürdige Geschichte. Aber er erwähnte es nur so, seltsamerweise ohne Betroffenheit. Winberg tat zwei Schritte auf das Fenster zu, um hinauszusehen, und der Pfarrer hielt noch einmal in seiner Bewegung inne und blickte ihn schweigend an.

      Ich geh nicht fort, sagte Winberg noch einmal.

      Der Pfarrer fragte: Kennen Sie einen Rechtsanwalt?

      Ich werde telefonieren, sagte Winberg.

      Bitte. Der Pfarrer zögerte eine Sekunde und verließ die Sakristei.

      Winberg fingerte das Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Winberg, antwortete er der Stimme des Krankenhauses. Dann wurde er mit dem Stationsarzt verbunden.

      Wie geht es meiner Frau?

      Nichts Neues, sagte der Arzt. Keine Veränderung.

      Nichts Neues, wiederholte Winberg. Aber er meinte nicht den Arzt. Er meinte den Priester, der ihn gerade als Täter ausgab; Christine, die gewesen war und nicht mehr sein würde; Kryger, dessen Gehirn draußen in die Fugen des Steinfußbodens floss. Keine Veränderung. Er meinte sich.

      GÜGES

      Eine altmodische Geschichte

      … mir war in jener schwülen Stunde, / Als hättst du nicht das Recht dazu gehabt.

      Friedrich Hebbel,

      GYGES UND SEIN RING

      Sie hatte nichts dagegen, wenn er sie nackt sah. Sie mochte es nur nicht, wenn er sie beim An- und Ausziehen beobachtete. Er lag neben ihr, auf den Ellbogen gestützt. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Linien ihrer Schultern entlang, tastete über das Kinn und glitt übers Schlüsselbein.

      Himmel, bist du begehrenswert, schwärmte er.

      Sie war schon ein wenig müde und lächelte ihm zu.

      Das

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