Der Hungerturm. Michael Thumser

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Der Hungerturm - Michael Thumser

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machst dich zum Narren, sagte sich Winberg. Aber er vermochte es nicht, sich zusammenzunehmen. Dabei hatte er nicht einmal Angst um Christine – obwohl er wusste, dass es allen Grund dafür gab. Zunächst musste er sich anstrengen, ein Das-hat-nochgefehlt-Gefühl loszuwerden, das in seinem Kopf war und trotz mühseliger Konzentration auf die Katastrophe selbst immer wieder auftauchen wollte.

      Im Wohnzimmer lag die Zeitung noch halb aufgeschlagen auf dem Tisch, Geschirr, Butter und Marmelade standen hastig zusammengestellt auf einem Tablett. Im Schlafzimmer waren die aufgeschüttelten Kissen und Decken ordentlich über die Bettenden gebreitet. Durch das offene Fenster kam ab und zu ein leichter Windzug, der ein wenig nach Ruß roch und ein wenig nach jungen Bäumen. Christines Leben schien in der Wohnung geblieben zu sein, ihre durch die Jahre hindurch bis ins Unbewusstsein eingeübten allmorgendlichen Tätigkeiten schienen nur für kurze Zeit unterbrochen. Was da im Krankenhaus lag, wollte mit Christine noch nicht allzu viel zu tun haben. Ein paarmal fiel es Winberg schwer, die Vorstellung aufzugeben, sie werde im nächsten Moment aus einem Zimmer zu ihm kommen; dann beobachtete er sich, wie er lächelte und gerade dabei war, die Erinnerung an den Anruf, an das Krankenhaus und die Polizeistation wie eine dumme Einbildung abzuschütteln.

      Als er, eigentlich grundlos, die Toilette betrat, spürte er, dass er sich gleich würde übergeben müssen. Danach spülte er den Mund aus und steckte sich eine von Christines Zigaretten an. Er hatte sich jetzt derart aus dem Griff verloren, dass er sich kaum mehr entsinnen konnte, was mit dem Rauch zu machen sei, den er in Mund und Lungen hatte. Er stellte sich ans Schlafzimmerfenster, als ob es von hier aus eine Aussicht zu genießen gäbe, und beobachtete auf der abgezirkelten Wiese ein paar spielende Kinder, bunte Punkte, die einem noch kleineren Punkt, einem Ball, nachjagten und sicher gleich von einem Hausmeister vertrieben oder von einem alten, gelangweilt auf Belästigung wartenden Mieter beschimpft werden würden.

      Winberg wusste nichts mit sich anzufangen, alles war ihm aus der Hand genommen, er konnte nicht einmal danach fragen, was nun zu tun sei, nur noch danach, was war; und jede Antwort, die ihm gegeben werden könnte, würde ihm maßlos lästig sein oder ihn beunruhigen oder nicht genügen und Anlass geben zu neuen Fragen. Er hatte Angst, dass dieser Zustand so bald nicht enden würde, sollte Christine jetzt sterben.

      Als er wenig später in der Firma anrief, um die Fragen zu beantworten, wo er denn geblieben und warum er nicht wiedergekommen sei, bat er kurz angebunden um eine Woche Urlaub.

      Wofür brauchen Sie den? Wir stecken mitten in einer entscheidenden Phase, erinnerte ihn die Stimme am Telefon, von der er jetzt nur wusste, dass sie das Sagen hatte.

      Unbezahlt, sagte Winberg ins Blaue hinein. Mir reicht eine Woche unbezahlter Urlaub.

      Er erhielt ihn, zusammen mit ein paar überflüssigen Bemerkungen seines Abteilungsleiters. Dann setzte sich Winberg in einen Sessel, ein leeres Glas in der Hand, in das etwas einzuschenken er vergessen hatte. Ihm graute vor den vielen Tagen allein mit sich. Aber es war ihm, als wäre etwas zu tun, das vielleicht so lange bräuchte, getan zu werden.

      2

      Am nächsten Morgen, nachdem er ein belangloses Telefongespräch mit Christines Arzt geführt hatte, machte sich Winberg mit dem Auto auf den Weg. Krygers Klinik, deren Adresse er aus dem Telefonbuch kannte, bestand aus vier großen Gebäuden im Stil klinkergemauerter, strohgedeckter Ostfriesenhäuser. Sie standen wie zufällig verstreut, zwischen dichten Bäumen und Buschwerk in einem umfänglichen Grundstück. Winberg ließ den Wagen stehen und schlenderte durch ein mit Sorgfalt und Raffinement arrangiertes Stück künstlicher Natur, in dem die Vögel sangen und ab und zu ein Frosch Laut gab, als wäre dies alles extra bestellt, als gehorchten Tiere, Pflanzen und der Wind dem Dirigat eines verborgenen Majordomus. Am Hauptgebäude, zu dem ein breiter, leicht gewundener Kiesweg führte, war eine Überwachungskamera versteckt, und auch die reich verzierten, unbezwingbaren Gitter vor manchen Fenstern des Erdgeschosses entgingen Winberg nicht.

      Eine Art Empfangsdame saß hinter einem breiten Massivholztresen inmitten eines Waldes aus üppigen Grünpflanzen und trank mit edler Bewegung aus einer Tasse. Sie fragte er wie beiläufig nach Doktor Kryger.

      Ob er angemeldet sei und erwartet werde? Andernfalls könne er jetzt allerdings nicht zu ihm. Sie erbot sich noch zu telefonieren. Winberg aber lehnte rasch ab und entfernte sich mit ein paar Ausreden in eine der seitab führenden Lauben, wo er sich zwischen Gruppen wartender Besucher und Patienten schob, die in Bademänteln rauchten.

      Auf einem Wegweiser fand er Krygers Zimmernummer. Vor der Tür fühlte sich Winberg mit einem Mal ausgeleert und ratlos. Mit beklommenem Atem setzte er sich auf einen Stuhl und wartete; dann beobachtete er einen Arzt und eine Sekretärin, die nacheinander das Zimmer betraten. Winberg stand auf, näherte sich der Tür und lauschte, sobald er sich selbst unbeobachtet fühlte. Innen wurde gesprochen, in dunklen, dumpfen Worten, die Winberg nicht verstand. Dann senkte sich die Klinke, und einen Augenblick später, gerade als Winberg sich abgewandt hatte und langsam einige Schritte weiter ging, trat hinter dem Arzt und der Sekretärin ein älterer, mittelgroßer und schlanker Mann mit frischem, lebendigem Gesicht heraus, der sich bei seinen Begleitern knapp nach diesem und jenem erkundigte und mit leicht gesenktem Kopf Antworten entgegennahm. Winberg ging den dreien nach und sah zu, wie nach kleiner Pause der Ältere, ganz offensichtlich Doktor Kryger, dem Jüngeren eine Hand auf die Schulter legte, nickte und ihm ein paar Worte sagte, die der andere mit auffälliger Erleichterung aufnahm.

      Nein, hörte Winberg Kryger dann sagen, ich fahre übermorgen trotzdem, bleibe aber am Wochenende in Notfällen übers Handy erreichbar. Sie wissen ja, wo. Und er nannte den Namen eines Hotels in einem der kleineren Seebäder. Winberg, der dort vor Jahren beruflich zu tun hatte, kannte es: für Wochenendausflüge ein beliebtes Ziel und in gut einer Autostunde erreichbar.

      Winberg betrat die Cafeteria erst eine Minute nach den anderen. Mit ein paar Blicken hatte er ausgemacht, wo sie saßen. Dann mischte er sich in eine der kurzen Reihen von Wartenden vor den Schaltern und ließ sich, als er gefragt wurde, eine Cola geben. Er setzte sich unscheinbar zu einem plaudernden Pärchen und sah von der Seite zum Tisch der anderen hinüber.

      An Doktor Kryger war vieles, was sich Winberg unangenehm aufdrängte. Vom ersten Augenblick an störte ihn seine makellose Erscheinung, die Kleidung, an der alles stimmte, eins zum anderen sich fügte, alles zueinander passte: die vornehmen Streifen in der Krawatte zum diskreten Muster des weichen Anzugs zur Geschmeidigkeit des Schuhleders zur Frische des Hemdes zum zurückhaltenden Glanz der Ringe, die er an beiden Händen trug. Der Körper des Mannes schien zweitrangig, zum Anzug hinzuerfunden: das weißgraue, noch volle und gepflegte Haar, der von pfiffiger, vielleicht bissiger Intelligenz klein und scharf gewordene Blick, die eng anliegenden, noch ziemlich kleinen Ohren, die gewölbte, eine Spur zu voluminöse Nase, die dem Gesicht unverwechselbaren Charakter gab. Winberg begann, jede von Krygers Bewegungen zu verabscheuen, die sich grazil, aber nicht affektiert gaben, genau bemessen, niemals hastig, fehlerlos. Als Kryger an diesem Tisch der Klinikkantine Kaffee aus einem Pappbecher trank, tat er das so, wie Winberg in einer exklusiven Bar einen teuren Drink zu sich genommen haben würde.

      Winberg spürte: da war nichts, das ihn und Kryger einander näher bringen könnte, keine gemeinsame Gewohnheit, nichts von beiden Wertgeschätztes, auch nichts, das sie vereint ablehnten, nicht ein einziges Wort ihrer beiden Sprachen. Kryger würde ihm viel zu fremd bleiben, als dass er ihn je würde hassen können. Und Winberg, seine Wahrnehmungen sortierend, bemühte sich sofort darum, sich darauf einzustellen.

      Wenig später, als Kryger und die beiden andern die Cafeteria verließen, kamen sie an Winbergs zwischen die Schultern gezogenem Kopf vorüber. Sie sprachen gerade über den Unfall vom Vortag. Kryger nannte ihn ein bedauerliches Unglück, erwähnte das arme Opfer, das für einen Augenblick der Unaufmerksamkeit eine schreckliche Strafe zahlen müsse. In seiner Stimme schwang – nicht ganz echt? – der Ton einer inneren Bewegung, mit der er begonnen zu haben schien, ohne sie je zu Ende bringen zu

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