Der Hungerturm. Michael Thumser
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Читать онлайн книгу Der Hungerturm - Michael Thumser страница 6
Winberg legte das Gesicht in die Hände. Während Christine bewusstlos in einem kastenförmigen Bett inmitten elektronischer Apparate lag, die ihr Leben bestärken und, sobald nötig, ersetzen sollten, konsolidierte sich hier die unverbrüchliche Kameradschaft der Unbeteiligten, durch die Erleichterung geeint, mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Ihre dienstliche Sprache setzte den interesselosen Erinnerungen die Maske der Geschäftigkeit auf, des innerlichen Engagements und der Bestürzung über das unverdiente Leid eines anderen. Die Gesichter verzogen sich gerade so wie bei der Rundfunknachricht von einer mittleren Katastrophe irgendwo im Lande oder weit weg auf der Welt, mit einer gewissen Anzahl von Todesopfern und Schwerverletzten. Die Stimmen bedeckten sich soweit, dass man gerade noch begreifen konnte, es sei nicht schön, was andernorts geschah an schlimmen Dingen. Die Gesichter, die dergleichen daherlogen, schienen sich für Winberg von einer Sekunde auf die andere mit abstoßender Haut zu überziehen, hässlich wie das abgehandelte Ereignis selbst.
Eine nicht mehr junge Schwester empfing ihn, sie war von Arbeit und Verantwortung niedergedrückt und strahlte klinische Sauberkeit aus wie einen Vorwurf gegen Winbergs abgetragene Jacke und staubige Schuhe. Mit müdem Gesicht teilte sie ihm mit, dass der Stationsarzt nicht zu sprechen sei; Christine lag noch auf der Intensivstation.
Sie hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, sagte die Schwester. Er könne noch nicht zu ihr hinein.
Aber durch eine Glasscheibe durfte er sehen: auf ihr entstelltes und geschundenes Gesicht unter dem Turban des Kopfverbands, auf die Leitungen von Maschinen, auf die Schläuche in den Körper hinein und aus ihm heraus, auf das simultane stumme Wandern gezackter Lichtkurven über einen Bildschirm. Sein Blick wartete eine Weile darauf, dass Christines bräunliche, perlmuttern schimmernde Augenlider sich bewegten.
Wie ist ihr Zustand?, fragte Winberg.
Stabilisiert, antwortete die Schwester und sah ihm in das an den Wangen eigentümlich verschobene Gesicht, das sie jetzt mehr interessierte als die seit einem Tag unveränderten Züge der Patientin.
Hat es Sinn, auf den Doktor zu waren?, fragte er.
Die Schwester schüttelte den Kopf. Telefonieren Sie mit ihm, riet sie. Später.
Noch ein Blick in Christines Gesicht. Winberg hätte helfen mögen, sie waschen, das Bett richten, oder nur bei ihr wachen und darauf achten, dass die Lichtlinien nicht aufhörten, über den Bildschirm zu flattern. Aber derlei Beistand war nicht gefragt. Besondere Menschen hatten hier den Auftrag dazu; Menschen, die durch nichts zu denen gehörten, denen sie helfen sollten. Für einen Moment suchte Winberg ein Opfer für den Funken Hass, der ihm gerade zur Verfügung stand. Aber nach wem er auch Ausschau hielt: er fand nur welche, die nichts dafür konnten, jeder auf seine Art. In seinem Kopf hieß es jetzt wenigstens: dran bleiben. Am Leben dieses Krygers teilnehmen von außen. Es ansehen, wenn es schon nicht zu verstehen war.
Am folgenden Morgen machte Winberg Krygers Wohnung ausfindig, fuhr hin und folgte ihm, als er aus dem Haus trat und fortfuhr, mit dem Auto in die Klinik; wartete dort zwei Stunden, bis Kryger wiederkam; ging hinter ihm her weiter ein paar Straßen in Richtung der Innenstadt in einen Park; blieb dort eine Viertelstunde lang etwa zwanzig Meter von ihm entfernt auf einer Bank sitzen, solange Kryger in einer Zeitung las; folgte ihm dann durch die Anlage in ein dahinter gelegenes Wohnviertel mit herrschaftlichen, kostspielig renovierten Mietshäusern hinter reich verzierten Fassaden aus der vorletzten Jahrhundertwende; wartete, bis Kryger aus einem der Häuser wieder herauskam, in dem er offensichtlich jemanden besucht hatte – einen Patienten, eine Geliebte? –; blieb dicht hinter ihm, solange er durch eine Reihe engerer, winkliger Sträßchen und Gassen der Altstadt ging; und ließ endlich den Abstand zu Kryger wieder größer werden, als sie auf einen weiten, übersichtlichen Platz traten, an dessen einer Seite eine große Kirche stand. Nachdem Kryger über einige flache Stufen aus dem Sommerlicht im fast abweisend dunklen Portal verschwunden war, lehnte Winberg sich an eine Laterne, legte einen Fuß über den anderen und entspannte sich endlich. Jetzt könnte er überlegen: ob er hier warten solle; ob er Kryger in die Kirche folgen oder ob er einfach fortgehen solle; was überhaupt er von Kryger wollte, ob er eine Aussprache erwarte oder gar so etwas wie eine Entschuldigung; ob es ihm genügen würde, in Krygers Gesicht zu schlagen oder ihn anzuspucken; oder ob er ihn nur fragen wollte, was vorgefallen sei – von alledem hatte Winberg nicht die Andeutung einer Vorstellung.
Weil Kryger länger in der Kirche blieb, als Winberg erwartet hatte, ging er ihm schließlich nach. Drinnen hatten seine Augen Mühe, sich an das bedrückende Dämmerlicht zu gewöhnen. An den Wänden neben dem Eingang brannten auf nüchternen Stufengestellen Hunderte von Kerzen, rechts, wenige Schritte weiter, hing von der Decke ein kleines, rot leuchtendes Gefäß; fremde Ansichten aus einer Welt, an die Winberg sich seit seiner Trauung mit Christine nicht mehr erinnert hatte.
Mit langsamen Schritten erreichte er die hinterste Bankreihe. Durch die Fenster im Lichtgaden hoch über ihm fielen schwere Strahlen und markierten den Weg zur Vierung, zum Altar. Von hier hinten war das Mittelschiff ganz zu überblicken. Um diese Stunde verteilten sich nur wenige Menschen in der Kirche, ein paar alte Frauen, die auf knorrigen Knien, die mürben Hände ineinander verknotet, bewusstlos über den Bänken hingen; und weiter vorne eine kränklich aussehende Schwangere, die Hände im aufgeblähten Schoß, die halb geschlossenen Augen ohne sicheres Ziel nach vorne gerichtet. Von dort näherte sich träge ein Mann, der, einen Sonnenhut auf dem Kopf, die Wandgemälde betrachtete, dabei manchmal stehen blieb und einen Finger an den Stein legte mit einer Geste, mit der ein Fachmann prüft, ob die Farbe trocken ist. In einer der Bänke vor dem Altarraum saß Kryger, unauffällig, in durchaus bequemer, aber nicht nachlässiger Haltung. Hin und wieder legte er den Kopf auf die rechte, dann auf die linke Schulter, veränderte in Abständen die Positur ein wenig, wirkte dabei stets entspannt, fast heiter. Zwischen den Fingern bewegten sich die Perlen des Rosenkranzes, manchmal öffneten sich Krygers Lippen, sodass man ahnte, wie er die Gebete murmelte, ein ums andere Mal. In seiner Sammlung schien er so abwesend, dass Winberg nicht näher an ihn heran wollte. Er setzte sich in eine der hinteren Bänke und starrte nach vorn auf Krygers sorgfältig gebürsteten Hinterkopf. Einmal verließ ein schwarz gekleideter Geistlicher die Sakristei, die ans rechte Seitenschiff grenzte. Als er Kryger erkannte, der jetzt aufgestanden war, ging er mit schnellen Schritten auf ihn zu, lächelte, und beide gaben einander die Hand, jeder mit einem Gesichtsausdruck zwischen Hochachtung und Freude über eine alte Bekanntschaft. Nach ein paar Worten, von denen Winberg nichts verstand, hob der Priester die Hand, zum Abschied winkend, und verließ die Kirche durch einen Seitenausgang. Kryger hatte sich wieder gesetzt; saß ganz ruhig da, als hätte nichts seine Meditation unterbrochen.
3
Winberg fand auf einmal, dass er grenzenlos Zeit habe. Ihm wurde bewusst, wie sich eine Geduld seiner bemächtigte, die ihm sein ganzes Leben hindurch fremd gewesen war. Es fiel ihm nicht schwer, mit ein, zwei belanglosen Magazinen in den Händen von zehn Uhr morgens an in der Hotelhalle zu sitzen und auf Krygers Ankunft zu warten. Kurz zuvor hatte er dem sorgenvollen Gesicht des Portiers entnommen, dass alle Einzelzimmer längst vergeben seien, dass man ihm nur noch mit einem weder besonders komfortablen noch preiswerten Doppelzimmer in einem der oberen Stockwerke dienen könne. Bedenkenlos hatte er eingewilligt, ohne nach dem Preis zu fragen. Dann saß er Stunde um Stunde, sah vor sich hin auf die Füße der Kommenden und Gehenden und war sich gewiss, dass auch Kryger kommen werde. Winberg wartete nicht; er war einfach da.
Kryger traf am frühen Nachmittag ein, ihm auf den Fersen ein Page mit zwei Koffern an den Armen. Auf der Terrasse vor dem Hotel hatte Kryger offenkundig schon einen Teil jener Freunde begrüßt, die er hier übers Wochenende treffen wollte; sie traten gemeinsam mit ihm in die Halle, man redete durcheinander, jeder mit mindestens zwei anderen gleichzeitig, man betrug sich hervorragend freundlich gegeneinander und voller Einverständnis, für das eine ausdrückliche Grundlage