Der Hungerturm. Michael Thumser
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Gegen acht hielt er vorm Krankenhaus und war sich im Klaren, dass die Aussicht gering war, Christine noch sehen zu dürfen; er wusste nicht einmal, ob er es wollte. Fast wäre es ihm lieber gewesen, der starre, unbewegte Anblick ihres violetten Gesichts unter dem weißen Turban bliebe in seinem Gedächtnis wie eine schlimme, aber übertriebene Erinnerung. Die Nachtschwester sah ihn verdrießlich an und schüttelte wortlos den Kopf. Aber Winberg blieb fest.
Nur einen Augenblick, sagte er. Sicher verstehen Sie mich.
Eine Weile zögerte sie noch, und Winberg schickte ein paar gute Worte und schmeichelnde Entschuldigungen nach. Das erweichte ihr Herz, und sie nahm ihn mit sich.
Hat sich Herr Doktor Kryger schon einmal nach meiner Frau erkundigt?, fragte er unterwegs.
Nicht dass ich wüsste, sagte die Schwester. Heute Morgen haben wir sie aus der Intensivstation verlegt, fuhr sie fort. Und weil sie ihn wie Christines Kind, nicht wie ihren Mann ansah, fügte sie hinzu: Vielleicht wird jetzt doch noch alles gut.
Zuerst wollte sich auch Winberg darüber freuen. Dann überfiel ihn mit überzeugender Plötzlichkeit alles, was er über Krankenhäuser, Intensivstationen, Schwerverletzte und Sterbende gehört hatte. Vielleicht war die Intensivstation überfüllt? Vielleicht war jemand eingeliefert worden, dessen Fall aussichtsreicher schien als der Christines und der die besondere Pflege der Station eher verdiente als sie? Vielleicht war man dabei, sie aufzugeben? Vielleicht hatte man eingesehen, dass in solchen Fällen Sterbendürfen gnädiger ist als Weiterlebenmüssen? Und Winberg fühlte jetzt, dass seine Hoffnung schon zerfallen war; dass er in den vergangenen Tagen gelernt hatte, allein durchzukommen; dass sein Leben bereits anders aussah als jenes, das er an Christines Seite geführt hatte; dass in dieses neue Leben Christine als Kranke, als Sterbende passte, nicht mehr aber als Lebende, als Partnerin Platz darin hatte; dass sie ihm fremd geworden sein würde, geschähe doch noch irgendwann das Wunder ihrer Heilung.
4
Winberg erwachte aus einem schweren Schlaf, aus einem schweren Traum ohne Bilder, der nichts zurückließ als die trübe Erinnerung daran, dass ihm wieder gesagt worden war, es müsse etwas geschehen und anders werden. Er sah auf die Uhr, es war etwa halb sechs, in einer Stunde würde der Wecker klingeln. Winberg stellte die Glocke ab und drehte die Uhr mit dem Zifferblatt zur Wand. Er fühlte sich zerschlagen, ohne dass noch Schlaf in ihm war, und er vermochte die Augen nicht länger als ein paar Sekunden geschlossen zu halten. Dann meinte er, in seinem Kopf nach ein paar Gedanken suchen zu müssen, aber er fand keinen, der von gestern übrig geblieben wäre, und neue zu denken, fehlte ihm die Kraft. Seit Christines Unfall spürte er sich mehr und mehr vom Weg abgekommen, einen Weg gehen, der keine Richtung hatte.
Zwei Stunden lag Winberg: auf dem Rücken, den Blick nach oben auf die grau gewordene, allmählich heller werdende Zimmerdecke gerichtet. Manchmal schoss ihm ein alberner Satz durch den Kopf, der unmöglich von ihm oder Christine hätte stammen können, etwa: Da musst du durch; Sätze aus mittelmäßigen Filmen, wie: Es muss getan werden.
Später, im Bad, löste er fröstelnd zwei Aspirin in Wasser, weil er es für möglich hielt, dass er Kopfschmerzen habe oder bekommen könne. Die Dinge fühlten sich heute falsch an, mit ein paar konfusen Bewegungen warf er aus Versehen sein Rasierzeug, die Zahnbürste und ein Parfümfläschchen Christines zu Boden. Bald erfüllte eine schwere, süße Duftwolke die Wohnung. Mit einem Mal schienen alle Gegenstände nach Christines Haut riechen zu wollen, nur viel stärker, aufdringlich, ohne die Zurückhaltung, mit der ihr Hals, der Ansatz ihres Haars, ihre Handgelenke den Geruch preisgaben: sparsam fast, gleichsam Stück um Stück.
Von vorneherein hatte dieser Tag für Winberg etwas von einem Abschluss. Jetzt hielt ers nicht mehr für nötig, sich in Bedeckung zu halten. Er rief in Krygers Klinik an und fragte, wann der Doktor zu sprechen sei. Erst nachmittags, lautete die Antwort. Da lag die Hoffnung nahe, dass Kryger wieder seinen Spaziergang durch den Park, über den Kirchplatz, in die Kirche unternehmen würde.
Am Vormittag brachte Winberg die Wohnung in Ordnung. Das lenkte ihn ab, und die immer übersichtlichere Arbeit seiner Hände machte ihn schließlich ruhiger. Wenn sie schwere Gegenstände bewegten, prüfte er wie ein Arzt die Festigkeit des Griffs, die Ausdauer der Finger. Wenn er unter dem Gewicht eines Möbelstücks stöhnte oder sich einmal räusperte, staunte er über seine Stimme, die hohl klang und eigentümlich verstellt.
Um zehn verließ er die Wohnung und fuhr zu Krygers Klinik. Ein paar Minuten war er auf Vermutungen angewiesen, ob Kryger das Haus vielleicht schon verlassen habe oder erst noch herauskommen werde oder gar nicht an einen Spaziergang denke; bis Winberg, aus ziellosen, unwiederholbaren Gedanken aufschreckend, den Sommermantel Krygers nicht weit vor sich um eine Ecke verschwinden sah.
Er wählte diesmal einen anderen Weg als vor drei Tagen, aber Winberg hatte die durch nichts begründete Gewissheit, dass das Ziel dasselbe sein werde. Er folgte Kryger durch ein paar Einkaufsstraßen, wartete vor einem Tabakladen, später vor einer Weinhandlung, blieb eine halbe Stunde untätig in der Nähe eines Friseursalons stehen, bis Kryger seinen Weg wieder fortsetzte. Als er endlich auf die Kirche zuging, verbarg Winberg sich hinter einem Baum, um nicht jetzt noch erkannt zu werden; scheinbar gleichgültig drückte er sich an die staubige Rinde, wie einer, der jahrelange Routine im Verfolgen und Verstecken und Beobachten hat. So wartete er ein paar Minuten und trat dann durch das Portal ins Kircheninnere.
Drinnen herrschten braungraues Licht und der uralte Geruch von Kerzen, kaltem Weihrauch und eingestaubten Stoffen. Wie vor ein paar Tagen: matte Frauen, graue Hände, die regungslosen Lichtbalken aus dem Obergaden, in denen Staubkörner millionenfach ihre Kreise zogen. Von einer Seite kam ein Geräusch, das gedämpfte Einschnappen eines Türschlosses. Kryger stand auf und wandte den Kopf dem Priester zu, der langsam auf ihn zukam, mit lächelndem Gesicht, und ein paar Meter vor ihm die Hand ausstreckte.
Etwas setzte Winberg in Bewegung. Wie auf Rollen trugen ihn seine Füße gleichmäßig langsam nach vorn; wie eine Videokamera hielten seine Augen jede Geste Krygers und des Geistlichen fest, den Händedruck, die sich öffnenden und schließenden Münder, die Blicke des Pfarrers, die mit Respekt und Wohlwollen auf Kryger fielen, und die Krygers, die sich ab und an zu Boden richteten, wie wenn das von ihnen erwartet würde.
Eine Hand Winbergs legte sich auf die Wange einer Kirchenbank, und seine Füße schoben sich nebeneinander. Als der Priester noch einmal Krygers Hand nahm, streifte sein Blick Winbergs Gesicht. Ohne dass der Geistliche mit seinen leisen Worten auch nur einen Augenblick innehielt, hatte er jenen Mann zur Kenntnis genommen, der da seit einer Minute unentschlossen im Mittelgang verharrte wie ein jahrelang beichtsäumiger Sünder und sie beide anstarrte. Man verabschiedete sich, der Geistliche strebte dem Seitenausgang zu, jedoch gemächlicher als vor drei Tagen, so, als ob sein Hinterkopf rückwärts sehen wollte, um etwas abzuwarten.
Winberg war unterdessen hinter Kryger getreten, der sich wieder gesetzt hatte und, den Rosenkranz in den Händen auf dem Schoss, dem Pfarrer nachschaute. Stumm blieb Winberg stehen und starrte auf den Scheitel des Kopfes vor ihm, auf die gesund geröteten, schimmernden Ohrmuscheln, auf die Nasenspitze, die unter Krygers Stirn hervorsah.
Dann drehte Kryger sich um und sah nach oben. Dann stand er auf und forschte sich kurz in das Gesicht des anderen. Dann setzte er zum Sprechen an und ließ es bleiben. Dann sagte er doch noch:
Kenne ich Sie?
Und:
Ich kenne Sie doch?
Und:
Sie waren mir auf den Fersen. Ja. Die ganze