Der Hungerturm. Michael Thumser
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Читать онлайн книгу Der Hungerturm - Michael Thumser страница 4
Eine Sekretärin drückte sich fast heimlich durch die Tür und musste sich von einem der Chefs ungeduldig anraunzen lassen.
Ein Anruf, sagte sie leise.
Für wen?
Für Herrn Winberg.
Na dann, bitte. Aber beeilen Sie sich nach Möglichkeit.
Winberg bemerkte erst nach und nach, dass damit er gemeint war.
Für mich? Er folgte der Sekretärin.
Am Apparat war eine unbekannte, geschäftsmäßig nüchterne Stimme, die sich mit dem Namen eines Krankenhauses vorstellte. Christine Winberg sei eingeliefert worden. Ob er gleich kommen könne?
Winberg begriff noch nicht. Meine Frau?
Sie hatte einen Unfall. Ist es möglich …
Wann … wo …
Sie wird jetzt operiert.
Mein Gott.
Bringen Sie ein paar Sachen Ihrer Frau mit, bitte. Außerdem sind noch einige Formalitäten zu erledigen.
Wer …
Mit der Polizei können Sie sich anschließend in Verbindung setzen, sagte die Stimme des Krankenhauses.
Die Sekretärin hatte erschrockene Augen, tat aber so, als hätte sie nichts mitbekommen.
Kann ich helfen?, fragte sie, als Winberg zögerlich aufgelegt hatte.
Meine Frau … Nein, stammelte Winberg, fasste sich dann ein wenig und sagte: Ich muss gleich fort. Er fühlte sich hilflos und seit Langem zum ersten Mal völlig allein.
Man ließ ihn nicht zu ihr. Sie sei am Schädel verletzt, schwer, beträchtlich, sagte ihm ein junger, langer und hagerer Arzt, der ihn mit einer routinierten Bewegung sacht am Arm nahm und langsam den Gang entlang führte. Die Operation sei abgeschlossen und gut verlaufen, soweit man das bei einem Fall wie diesem sagen könne; ob und wie sehr der Eingriff habe helfen können, lasse sich erst später absehen.
Winberg wurde den Eindruck nicht los, dass nicht mehr viel zu machen war, und er wusste nicht: las er das aus dem naturgemäß passiven Gesicht des Arztes, hörte er es aus seinen Worten, aus seiner Stimme? Zu fragen, wie die Chancen stünden, wagte er nicht.
Wir müssen also abwarten, schloss er Arzt, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Dann sah er auf die Uhr. Entschuldigen Sie mich.
Bitte …, beeilte sich Winberg.
Wenn Sie Fragen haben –, sagte der Arzt.
Winberg hatte viel zu viele Fragen, darum stellte er nicht eine, sondern sah willenlos einer jungen Schwester zu, die mit einem Rolltisch voller dampfender Mittagessen unter Kunststoffhauben auf sie zukam. Dann spürte er einen sterilen Händedruck.
Es ist ein schwieriger Fall, sagte der Arzt zum Abschied, kein außergewöhnlicher, aber ein schwieriger Fall.
Als Fall hatte Winberg Christine noch nicht gesehen.
Der Fall sei eindeutig, sagte ihm ein Polizeibeamter auf der Wache. Bedauerlich, ja, und: Es tut uns leid für Sie und Ihre Frau, sagte er und schien es ehrlich zu meinen.
Winberg nickte irgendwohin. Neben ihm stand ein alter, verwüstet aussehender Mann, der Anzeige gegen Unbekannt erstatten wollte und dem ganzen Raum seine verfahrene, völlig nichtige Geschichte aufdrängte.
Kommen Sie, sagte der Beamte, nahm Winberg mit sich hinter den Tresen und ging voran in einen kahlen Nebenraum, wo ein Tisch, ein paar Stühle, Schränke und Regale standen. Sie setzten sich.
Kennen Sie den Doktor?, fragte der Beamte.
Wen?, gab Winberg zurück.
Doktor Kryger, sagte der Beamte. Ich habe Ihnen gerade berichtet, dass er den Wagen fuhr.
Ach ja.
Sie kennen ihn?
Nein.
Doktor Kryger – Sie haben wenigstens den Namen schon gehört, forderte der Beamte.
Winberg dachte an Christine und wie sie vor dem Auto eines Doktor Kryger lag.
Er führt eine Privatklinik am Stadtrand. Da geben sich sogar die Minister die Klinke in die Hand.
Winberg sah noch, wie Christine mit gefüllter Einkaufstasche vor den Wagen lief.
Der Fall ist eindeutig, wiederholte der Polizist. Ihre Frau hat nach etwas auf der anderen Straßenseite Ausschau gehalten, vielleicht einen Bekannten gesehen. Die Zeugen sagen, sie sei auf die Fahrbahn gelaufen, mit erhobener Hand, als ob sie jemandem winken wollte, und habe nicht nach rechts gesehen und nicht nach links.
Wie heißt der Mann?, fragte Winberg mitten hinein.
Kryger. Mit Ypsilon, antwortete der Polizist und sah Winberg prüfend an.
Wann ist es passiert?
Gegen zehn, sagte der Beamte. Der Mann ist unschuldig, daran ist kein Zweifel.
Unschuldig, wiederholte Winberg.
Der Fall ist eindeutig, sagte der Polizist.
Entsetzen ergriff Winberg erst, als er den grauen Steinwänden der Hochhaussiedlung näher kam – er wusste nicht, ob es Mitleid mit Christine war, was ihn derart erschreckt hatte, oder ob die Verzweiflung ihn ausgerechnet hier packte, weil er jetzt allein hier wohnen sollte, inmitten dieser Häuser, die immer dastanden wie in endlosen Regenschauern und die taten, als könnten sie nicht wahrhaben, dass auch manchmal die Sonne schien. Der Sommer in solch einem Haus sei verlorene Zeit, hatte Christine einmal gesagt.
Als er durch die betonbegrenzten Grünanlagen auf das Haus zuging, das zufällig seine Wohnung enthielt, wurden seine Schritte wie von selbst immer langsamer, als wollten seine Beine den Augenblick noch weiter hinauszögern, in dem ihre Bewegung zum Stillstand kommen musste. Winberg nahm nicht den Lift, sondern stieg Stockwerk um Stockwerk an verschmierten Wänden entlang das stets leicht nach Urin und Gummi riechende Treppenhaus hinauf.
Wenn er sonst seinen Schlüssel aus dem schweren, klirrenden Bund heraussuchte und dann im Schloss der Wohnungstür drehte, rief Christine immer:
Bist dus?,
als ob es auch jemand anderer sein könnte. Er rechnete damit, dass diesmal die Wohnung still bleiben würde, und doch fiel ihm auf, dass niemand rief, und er fühlte sich fast ein wenig schuldig, weil er darüber nicht noch mehr erschrak. Im Flur, als er die Tür geschlossen hatte, blieb er im Halbdunkel stehen und lauschte, als ob hinter einer der Türen schlecht über ihn gesprochen werden könnte. Es war nichts zu hören als das regelmäßige Knacken