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Wurst weggeworfen werden musste und Inka erneut klagte, diesmal über die Schande und das zum Fenster hinausgeworfene Geld. Überhaupt hatte Inka sehr viel geklagt. Daran war auch Leander sicher nicht ganz unschuldig, denn zufrieden war wohl keiner mit dem Alltag in der Familie gewesen. Aber alle hatten sich immer nur auf sich selbst und ihre Ansprüche konzentriert, Leander noch dazu über Gebühr auf seine Arbeit.

      Vor seinem Haus in der Wilhelmstraße steckte der Insel-Bote im Zeitungshalter des Briefkastens. Leander zog ihn heraus und betrat das Fischerhäuschen.

      Nach dem Frühstück überlegte er kurz, ob er die Zeitung in seinem frisch gerodeten Garten lesen sollte, entschied sich aber dagegen. Dort wurde er nur mit der Tatsache konfrontiert, dass er eigentlich mit der Gartenarbeit hätte fortfahren müssen, und dazu hatte er schlicht zu viel Muskelkater und zu wenig Lust. Außerdem war die Gefahr zu groß, dass Frau Husen sich wieder seiner Arbeitsmoral annahm. Also klemmte er sich die Zeitung unter den Arm und ging zum Park an der Mühle in der Mühlenstraße. Dieses Kleinod hatte ein Künstler angelegt, und zwar nach Kriterien, die so esoterisch wie wirkungsvoll waren. Alles im Park, angefangen bei dem Teich und seiner ihn umgebenden Bepflanzung, über den Brunnen, der aus vier nach den Himmelsrichtungen ausgerichteten gebogenen Rohren Wasser spendete, bis zu dem alles überragenden Storchennest, war nach energetischen Gesichtspunkten gestaltet und sollte den Besuchern Ruhe schenken und die Gelegenheit, ihren Energiehaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Leander jedenfalls konnte hier stundenlang auf einer der Bänke sitzen und lesen oder einfach nur die Libellen beobachten, wie sie einzeln oder in Form eines Paarungs-Rades über den Teich surrten – über sich das Klappern der Störche auf ihrem Nest, um sich herum nur Frieden und Stille.

      Er betrat den Bereich des Parks, der nach Märchen­motiven gestaltet war, und ließ sich auf der schmiedeeisernen Bank nieder. Die Windmühle auf der dem Park gegenüber gelegenen Straßenseite, ein wunderschön erhaltener Galerieholländer, der von Rechtsanwalt Petersen bewohnt wurde, spiegelte sich vollständig auf der glatten Wasseroberfläche zwischen den Seerosen. Nur der Flügel, dessen Stummel jetzt unten rechts feststand, war bei einem der letzten Stürme zum größten Teil abgebrochen. Leander hoffte, dass Petersen genügend Sinn für Geschichte und für Ästhetik hatte, um ihn wieder reparieren zu lassen, auch wenn das eine wenig Gewinn versprechende Investition wäre.

      Über seinem Kopf hob ein lautes Klappern an. Als Leander den Blick hob, sah er zwei Störche auf dem Nest sitzen, das hoch oben auf einer Stange thronte. Die Störche gehörten zum Stadtbild Wyks. Ständig sah man sie in der Luft, auf Hausdächern, auf den umliegenden Wiesen oder bei Ebbe am Strand, wo sie auf Nahrungssuche durch die Priele stolzierten. An einem Abend hatte Leander dreiundzwanzig gezählt, aber es konnten auch mehr sein, zumal sie sich jedes Jahr dank des Schutzes, der ihnen in Wyk gewährt wurde, vermehrten.

      Die Sonne hatte bereits eine erstaunliche Kraft, so dass Leander froh über den Schatten war, der auf eine Hälfte der Bank fiel. Er entfaltete seine Zeitung und informierte sich über die anstehenden Festlichkeiten anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Stadt. Die entscheidende Woche stand kurz bevor. Neben einem Hafenfest mit großem Höhenfeuerwerk waren Aktionen wie der Bau eines Leuchtturms aus Sand an der Promenade geplant, der sogar ein funktionstüchtiges Leuchtfeuer erhalten sollte. Außerdem wurde ein Open-Air-Konzert der Band Stanfour angekündigt, deren Gründer, die Brüder Rethwisch, von der Insel kamen. Leander beschloss, dies zum Anlass zu nehmen, seine Freundin Lena wieder einmal nach Föhr zu locken.

      Da der Insel-Bote sonst nichts Interessantes zu berichten hatte, schlug er die Zeitung zu und schloss die Augen. Er erinnerte sich an seine ersten Tage und Wochen hier auf der Insel. Es war kalt gewesen, Winter eben, und er hatte sehr viel Energie gebraucht, um zu sich selbst zu finden. Verdammt, was war er damals fertig gewesen! Auf der Suche nach der Wahrheit über seinen Großvater und seine eigene Familiengeschichte hatte er begriffen, dass er während der letzten vierzig Jahre völlig falschen Idealen und Zielen nachgelaufen war. Er hatte Forderungen erfüllt, die nicht seine eigenen gewesen waren und eigentlich seiner inneren Struktur zuwiderliefen. Kein Wunder also, dass er krank geworden war. Niemals zuvor hatte er sich die Frage gestellt, ob die vorgegebenen Bahnen auch tatsächlich befahren werden mussten. Natürlich mussten sie das nicht, vorausgesetzt man hatte eine Alternative. Mit dem Tod seines Großvaters hatte sich dann dank des üppigen Erbes die große Chance geboten, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Das war eine Stabübergabe im rechten Moment gewesen, vielleicht sogar im letzten.

      Lena hatte zunächst Mühe gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie von nun an die meiste Zeit des Jahres getrennt leben würden. Inka und den Kindern hingegen war das vollkommen egal gewesen, was Leander wiederum einen Stich versetzt hatte. Er würde noch einige Zeit brauchen, um den Zeitpunkt nachvollziehen zu können, an dem sie sich so gründlich verloren hatten. Vor allem sein Verhältnis zu seinem Sohn Hanno, der Rechtsanwalt werden wollte, machte ihm zu schaffen, denn es wies große Parallelen auf zu dem Verhältnis, das Leanders Vater Bjarne zu dessen Vater Hinnerk gehabt hatte. Aber auch seine Tochter Pia, die in Kiel Ozeanografie studierte, hatte ihm schon so manche schlaflose Nacht bereitet. Sie ähnelte Inka so sehr, dass sich der Hass ihrer Mutter auf ihren Vater quasi eins zu eins übertragen zu haben schien. Leanders anfängliche Hoffnung, das schon wieder geradebiegen zu können, hatte sich bislang nicht erfüllt. Die kurzen Telefonate mit seinen Kindern waren allesamt unerfreulich verlaufen.

      Wie konnte man im Zustand abgerissener Kommunikation seinen Kindern erklären, warum man sich so hatte verhalten müssen, wie man sich verhalten hatte? Dafür waren Gespräche nötig, lange Gespräche und vis-à-vis, nicht am Telefon. Solche Gespräche gab es aber nicht mehr zwischen Leander, seiner Frau und seinen Kindern.

      Er schlug die Augen auf und blickte auf das Wasser des kleinen Teiches. Auf der glatten Oberfläche las er im Spiegelbild der Mühle die Worte Venti Amica, nur auf dem Kopf. Er hob den Blick, so dass er beide betrachten konnte, Original und Spiegelbild. Trotz des abgebrochenen Flügels wirkte die Mühle stattlich. Als ein leichter Windhauch aufkam, bekam das Spiegelbild ein Eigenleben, entfernte sich die Kopie vom Original. Je stärker der Wind wurde, desto mehr verwischte sich das Bild, das eben noch so klar und deutlich gewesen war. Wind of change, dachte Leander. Der Wind des Wechsels, der wechselhaften Geschichte, war in der Lage, scheinbare Übereinstimmungen durcheinanderzubringen, Unterschiede deutlich werden zu lassen. Kleine Jungen sind die Abbilder ihrer Väter – bis die Pubertät kommt, dann entwickeln sie eine eigene Richtung. Und wenn schon die Pubertät derartige Planänderungen herbeiführen kann, wie heftig schlagen dann geschichtliche Ereignisse ins Kontor?

      Die Protestbewegung von 1968 hatte Leanders Vater Bjarne eine Richtung gegeben, die dessen Vater Heinrich niemals vorhergesehen hatte. War Bjarnes Weg automatisch der richtige gewesen, nur weil er moderner war, emotionaler? War Heinrich Leander automatisch verpflichtet gewesen, diesen Weg mitzugehen oder zumindest zu akzeptieren, nur weil der, der ihn einschlug, sein Sohn war? Wann hörte die Selbstverleugnung auf, die mit der Geburt der Kinder begann? Hatte ein Vater kein Eigenleben mehr, stand er nur noch in der Verantwortung für seine Kinder?

      Weshalb, verdammt noch mal, musste Leander ununterbrochen dafür sorgen, dass seine Kinder ein gutes Leben hatten? Hatte er nicht auch ein Recht auf ein eigenes? Schließlich war der Umzug auf die Insel seine Rettung gewesen. Wer weiß, wie lange er sonst noch durchgehalten hätte. In einem Jahr vielleicht hätte sich der Deckel über seinem Sarg geschlossen, und dann hätten sie an seinem Grab gestanden – Inka, Hanno und Pia. Sicher, sie hätten Tränen vergossen, aber wie lange? Sie hätten ihm die Schuld selbst zugewiesen – aus ihrer Sicht durchaus verständlich. Sie hatten längst jeder ihr eigenes Leben, in das sie zurückgekehrt wären. Und niemand hätte auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, ob er, Henning Leander, auch ein eigenes Leben gehabt hatte – niemand. Umso wichtiger, dass jeder selbst dafür sorgte, dass er sein Recht bekam, sein Recht auf ein eigenes Leben.

      Der kurze Windhauch ließ wieder nach, der Wasserspiegel beruhigte sich, Abbild und Original deckten sich wieder, und Henning Leander beschloss, die Zeit für sich laufen zu lassen. In Zukunft wollte er sein eigenes, unabhängiges

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