Leander und die Stille der Koje. Thomas Breuer
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»Gut, lass uns Feierabend machen und etwas essen gehen. Ein frisches Bier auf der Promenade würde mir jetzt gefallen«, schlug Dernau vor. »Das Alibi von dieser Ariana kann auch einer unserer Chefs hier überprüfen. Sonst wird es den Inselsheriffs noch langweilig und die kommen auf dumme Gedanken. Und um Frau Rickmers kümmern wir uns, wenn Maarten Rickmers’ Alibi bestätigt wird. Morgen besuchen wir dann Frau Olsen und diesen Paulsen.«
Bennings stimmte zu und gab dem Kollegen Vedder den Auftrag, Maarten Rickmers’ Angaben bei Ariana Jeronski zu überprüfen. Auch den Zettel mit den Namen der Skatbrüder Brar Arfstens ließ er ihm von Dernau aushändigen, um das Alibi des Landwirts überprüfen zu lassen. Dann verließen sie die Zentralstation und umrundeten das Hafenbecken, um durch das Fluttor am Rathausplatz auf den Sandwall zu gelangen und den Abend dort mit einem guten Mahl und dem einen oder anderen Pils einzuläuten.
6
Henning Leander ging die wenigen Meter von der Wilhelmstraße zur Mühlenstraße durch die Fußgängerzone. Die Mittelstraße war noch ziemlich belebt, was sicherlich an den sommerlichen Temperaturen lag, die inzwischen bis weit in die Nacht herrschten. Die Insel hatte Hochsaison, und außerdem hatte das bevorstehende Stadtjubiläum zusätzlich Urlauber hergelockt. Entsprechend fand sich auch in den Schaufenstern der Wyker Buchhandlung und der Buchhandlung Bücher und Mee(h)r noch mehr inselspezifische Literatur als sonst.
Am Nachmittag hatte Leander Lena Gesthuysen angerufen und ebenfalls auf die Insel eingeladen. Sie hatte ihm zunächst von ihrer Überarbeitung vorgestöhnt, sich aber schließlich doch darauf gefreut, ihn endlich einmal wieder zu sehen. Von dem Stanfour-Konzert hatte er ihr nichts gesagt, das sparte er sich als Überraschung auf, wenn sie am Samstag herüberkam.
Jetzt war er auf dem Weg zu seinem Skatabend im Kleinen Versteck, einer urigen Kneipe in der Mühlenstraße, mit der es eine ganz besondere Bewandtnis hatte. Die heutige Kneipe war bis vor ein paar Jahren noch eine Kirche gewesen, genauer gesagt die Kirche eines recht eigentümlichen Geistlichen. Pastor Dirk Wittkamp, den in Wyk alle nur Mephisto nannten, hatte seine ohnehin sehr überschaubare katholische Gemeinde durch seine spezielle ketzerische Art der Predigt zusätzlich dermaßen reduziert, dass die kleine Kirche in der Mühlenstraße bald maßlos überdimensioniert schien. Und da sich die Katholische Kirche in Schleswig-Holstein ohnehin quasi in der Diaspora befand und immer schaute, wo sie Kosten einsparen konnte, war der Beschluss gefasst worden, dass die Gemeinde in eine kleine Kapelle umziehen sollte. Dann brauchte sie auch keinen eigenen Seelsorger mehr. Der konnte am Sonntag vom Festland kommen, die Messe halten, die Beichte abnehmen und dann wieder mit der Fähre ablegen, um auf Amrum den nächsten Dienst anzutreten. Für den Bischof die willkommene Gelegenheit, den unbequemen Pastor Wittkamp von der Insel zu entfernen. Die Kirche in der Mühlenstraße war ausgesegnet und einem Makler übergeben worden. Dass ausgerechnet Wittkamp sie kaufen und darin eine Kneipe eröffnen würde, anstatt eine Gemeinde auf dem Festland zu übernehmen, hatte der Bischof nicht ahnen können.
In diesem Kleinen Versteck nun trafen sich wöchentlich ein paar merkwürdige Gestalten, angeführt von Mephisto und mit einer Ausnahme Aussteiger wie er, um nach eigenen Regeln einen gepflegten Skat zu spielen. Henning Leander gehörte seit dem letzten Winter zu dieser skurrilen Truppe und neben ihm noch der Maler Götz Hindelang, der seinen Lebensunterhalt mit Bildern verdiente, die von Touristen gerne als Mitbringsel gekauft wurden, und von dem bislang niemand wusste, wo er eigentlich herkam. Hindelang, das wusste Leander von Mephisto, war eines Tages auf der Insel erschienen, hatte sich eines der Häuser auf den Warften in Greveling zwischen Wyk und Nieblum gekauft und dort sein Atelier eingerichtet. Was er vorher gemacht hatte, wusste niemand, und Fragen danach pflegte er zu ignorieren. Der Vierte im Bunde war Tom Brodersen, der einzige Nichtaussteiger unter den Skatbrüdern. Brodersen war Lehrer am Wyker Gymnasium und nebenbei Heimatforscher und Vertreter der Grünen im Stadtrat.
Die Luft im Kleinen Versteck war mies wie immer. Mephisto lüftete offenbar nur, wenn es gar nicht mehr anders ging, und aus dem bundesweiten Rauchverbot machte er sich gar nichts. Entsprechend dicht waren die Nebelschwaden, die Leander zu durchdringen hatte, als er auf den Tisch in der Nische zusteuerte, an dem Mephisto, Hindelang und Brodersen schon vor ihren Biergläsern saßen. Die Karten lagen in der Mitte des Tisches und harrten des vierten Mannes, den es aus spieltechnischen Gründen nicht brauchte, aus gruppendynamischen aber sehr wohl.
Leander klopfte auf den Tisch, erntete dafür ein wortloses Gegenklopfen der anderen und setzte sich auf den freien Stuhl. Noch bevor er an den Tisch herangerückt war, stand bereits ein frisch gezapftes Bier vor ihm, denn die junge Bedienung hatte Anweisung, den Strom gerade an diesen Tisch niemals versiegen zu lassen.
»Sieh an, sieh an«, tönte der kleine, aber schwergewichtige Mephisto in seinem tiefen Bass und zog seine buschigen Augenbrauen über den kleinen, vorwitzigen Knopfaugen hoch. »Der ehemalige Angehörige einer Herde von Spaltfüßern kommt wieder einmal zu spät – oder gehören Bullen und andere Rindviecher zu den Paarhufern?«
»Viel wichtiger als derartige zoologische Betrachtungen«, wies ihn Götz Hindelang zurecht, »ist doch die Frage, auf welcher Weide er so lange gegrast hat. Sollte es die der hübschen Eiken gewesen sein?« Dabei griff er sich mit beiden Händen an seinen eigenen Pferdeschwanz und zog das Gummi stramm, das die langen grau melierten Haare zusammenhielt.
Tom Brodersen stöhnte laut auf. »So geht das schon die ganze Zeit«, beklagte er sich bei Leander. »Bevor du gekommen bist, hatten sie mich drauf. Nachher musst du mir ein paar Tricks verraten, wie man den perfekten Mord begeht. Wir beide schauen uns lieber nach neuen Skatbrüdern um, als dass wir uns dieser Zumutung weiter aussetzen.«
»Da muss ich dich enttäuschen, lieber Tom. Zum einen weiß ich nicht, wie man den perfekten Mord begeht, sonst müsste ich meiner Frau keinen Unterhalt zahlen, damit sie sich ihre Reduzierung auf eine halbe Stelle leisten kann. Zum anderen werde ich den Teufel tun, es mir mit Mephisto zu verderben. Der steht mit den finstersten Mächten im Bunde.«
»Da hast du’s, Tom: Pauker haben keine Freunde!«, wies Mephisto den Lehrer mit erhobenem Zeigefinger zurecht und nahm die Karten auf, um sie umständlich zu mischen. »Wird Zeit, dass du das begreifst und dich in dein Schicksal ergibst. Deinen guten Willen kannst du gleich beweisen, indem du heute Abend überzeugend verlierst.«
»Erste halbe Stunde Ramsch!«, ordnete Hindelang an. »Damit erst mal was in den Pott kommt.«
In der Mitte des Tisches stand nämlich ein kleines rotes Töpfchen, das immer dann ebenfalls bedient wurde, wenn jemand sein Spiel verlor und zahlen musste. Beim Ramsch wurde jedes Spiel auch in den Pott bezahlt, so dass er in der ersten halben Stunde rasch anwuchs. Dem Reglement entsprechend bekam derjenige den kompletten Inhalt des Topfes, der einen Grand Hand spielte und gewann. Verlor jemand einen Grand Hand, musste er nicht nur seine Mitspieler nach ordentlicher Berechnung bezahlen, sondern er musste auch den Inhalt des Töpfchens verdoppeln. Das konnte mitunter sehr teuer werden.
Der Ramsch lief an diesem Abend relativ ausgeglichen. Jeder verlor mal und gewann anschließend auch wieder, so dass zwischen den Spielern kaum Umsatz stattfand und allein der Pott anschwoll. Nach der halben Stunde wurde dann regulär gereizt. Mephisto mischte ausgiebig das erste normale Spiel.
»Sag mal, Mephisto, warst du das damals in Ohio?«, erkundigte sich Hindelang und starrte entgeistert auf dessen Mischkünste, bei denen nicht selten einige Karten auf den Tisch fielen.
»Wovon faselst du, Meister Klecks?«
»Von dem besagten Pokerspiel, bei dem sich einer totgemischt hat.«
»Ha, ha und nochmals ha!«, erwiderte Mephisto mit