Fahlmann. Christopher Ecker
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Bahlow verspürte das Bedürfnis, die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen, aber dann siegte die Besorgnis, sie hat ihm alles erzählt, angefasst hat er mich, untenrum, ängstliche Füße verließen das Gästezimmer, tasteten sich Stufe um Stufe hinab zu dem quadratischen Treppenabsatz, wo die Treppe in einer heftigen Bewegung zum Hausflur hin abknickte. «Gehen Sie sofort in Ihr Zimmer zurück!», schrie Bilderbeck. Er umklammerte die Griffe eines gewaltigen Nussknackers, Bahlow blinzelte, nein, kein Nussknacker, vielmehr erinnerte das gewichtige Gerät in Bilderbecks Händen an eines dieser Essbestecke, mit denen man in vornehmen Restaurants Hummerscheren zu knacken pflegt – allerdings hatte dieses Alptrauminstrument die Größe einer Heckenschere. «Gehen Sie! Sofort!», brüllte Bilderbeck. Den Flur erfüllte ein flackernder Lichtschein. «Oder muss ich Ihnen erst Beine machen!» Bahlow schloss zweimal hinter sich ab, lehnte sich schwer atmend gegen die Tür des Gästezimmers. Diese Facette Afrikas bedurfte einschneidender Emendationen! Unten schrien Menschen, brüllten, lachten, etwas wurde die Treppe hoch- und gleich darauf wieder runtergeschleift; ein dumpfer Aufprall ertönte. Irres Gelächter erklang, während man etwas Sackartiges, Schweres über die Dielen zerrte. Trat für einen Moment Stille ein, wurde Bahlows Phantasie durch alptraumhafte Gefilde gehetzt. Doch diese Stilleperioden währten nie lange. Jemand drosch mit einem Hammer auf splitterndes Holz, Glas zersprang mit einem befreiten Klirren, jemand gab flehende Laute von sich, brutal brüllte man ihn nieder, die Haustür wurde zugeschlagen. Geschwind trat Bahlow ans Fenster. Auf der Sandstraße war niemand zu sehen. Doch halt! Am Straßenrand verbarg sich zwischen den Palmen eine dünne Gestalt. Bahlow sah weiße Augen und eine Reihe grinsender Zähne. Die Gestalt deutete zu ihm herauf, gestikulierte erregt, trat einen Schritt zurück und verschmolz mit den Schatten. Jemand sang im Korridor vor dem Zimmer ein kehliges Lied. Leichte Schab- und Kratzgeräusche erfüllten das Treppenhaus. Dann kehrte Stille ein, völlige Stille.
Als Bahlow am nächsten Morgen das Zimmer verließ, erwartete ihn ein verwüstetes Heim. Aufgerissene Schränke erbrachen Kleider und Hausrat; der Cocktailtisch versuchte sich an einem Kopfstand; Bücher, die aussahen, als hätte man sie mit aller Kraft an die Wand geworfen, bedeckten die geborstenen Dielenbretter. Man wird Sie am späten Vormittag am Hafen abholen, stand auf dem Zettel, den ein Federmesser an einen Stützbalken heftete. Erwähnen Sie mich nicht. Ich melde mich bei Ihnen. Halten Sie sich an Ihre Weisungen. Alles Gute! Bilderbeck. Weisungen? Er hatte keine Weisungen. Fluchend stieg Bahlow die mit Menschenkot besudelte Treppe hoch, packte den Pyjama in die Reisetasche und nahm, auch auf die Gefahr hin, sich zum Gespött zu machen, den Tropenhelm aus der Hutschachtel und setzte ihn auf. Licht. Überhell. Brennend. Sonne. Haustür schräg in den Angeln. Quietscht. Kracht an die Hauswand. Denken. Gestern sind wir. Orientieren. Raus hier! Nur raus hier!
Bilderbecks Anwesen krönte eine Anhöhe, von der aus sich die Sandstraße in eine Senke hinabschlängelte, an deren Grund die Luft flirrte wie kochendes Wasser. Von der Senke aus würde es fast ebenerdig zum Hafen gehen. Also los! Bahlow trug die Kiste ein Stück in die Senke hinab und kehrte zu Bilderbecks Haus zurück, wo ihn sein übriges Gepäck erwartete. Bald leisteten Reisetasche und Seesack der Kiste Gesellschaft. Bahlow kehrte um, um die Rolle Maschendraht und das Fangnetz zu holen, und schon hatte sich seine gesamte Habe um gut fünfzig Meter dem Hafen genähert. Der aus allen Poren schwitzende Entomologe setzte die Maschendrahtrolle und das schlappe Fangnetz jedoch nicht bei der Kiste, der Reisetasche und dem Seesack ab, sondern trug sie – an Camp Eins vorbei – zu einem wiederum fünfzig Meter näher am Hafen liegenden Punkt, den er im Geiste Camp Zwei nannte. Als Bahlows Gepäck sich zwei weitere Stationen auf den Hafen zubewegt hatte, trat ein pockennarbiger Europäer aus dem Dickicht am Wegesrand und erwartete ihn am sog. Camp Vier, das Bahlow in diesem Augenblick mit Seesack und Reisetasche komplettierte. «Ich nehme an, Sie sind der Entomologe Bahlow, der zur Tendaguru-Expedition stoßen soll.» Bahlow nickte. Vielleicht würde ihm der Mann helfen, das Gepäck zum Hafen zu transportieren. «Hier! Geben Sie das bitte von Geinitz!» Bahlow nahm den Umschlag entgegen. Vor einigen Tagen war er über das Oberdeck geschlendert, ein lauer Abend, ich habe als einer der letzten Reisenden den Tropenanzug angelegt, Kamelkarawanen zogen am Ufer des Suezkanals entlang, auf einmal stand dieser Heizer oder Kohlentrimmer oder Was-auch-immer vor ihm, ein rußiges Gesicht, maulwurfsartig blinzelnde Augen. Genau! Der Fremde erinnerte Bahlow an den verschreckten Heizer, der sich ähnlich lauernd und gehetzt umgesehen hatte.
«Man holt Sie am Hafen ab.»
«Ja», antwortete Bahlow.
«Das war keine Frage.» Mit zwei weit ausholenden Schritten erreichte der Pockennarbige den Straßenrand; grüne Wellen schlugen über ihm zusammen. «Sie werden dort bereits erwartet», kam es aus dem Dickicht, gefolgt von einem sich eilig entfernenden Rascheln und Knacken.
Bahlow steckte den Umschlag in die Innentasche der Jacke, bückte sich nach der Kiste. Bei Camp Fünf schloss sich ihm eine Gruppe Kinder an, die das Gebaren des schweißgebadeten schimpfenden Weißen entzückte, der mit einem großen Haufen Besitztümer durch die Lande zog. Bahlow verfluchte erneut sein Versagen am Quai du Port, schrie: «Weg von der Kiste!» Mehr Kinder, Frauen, Männer, Camp Sechs, Sieben, die Meute wurde ausgelassener, johlte, wenn ihm der Tropenhelm in die Augen rutschte, sang, Camp Acht, Bahlow verfluchte sein Versagen auf Bilderbecks Veranda. «Nur beobachten!», höhnte eine Stimme in seinem Kopf, die unangenehm an die seines Lateinlehrers erinnerte. «Sein Leben führen wollen, als läse man ein Buch! Carl, sie geben dir das Afrika, das du verdienst!» Gegen Mittag erreichte Bahlow den Hafen als Mittelpunkt eines beweglichen Volksfestes. Und so begann sein afrikanisches Abenteuer.
5Oft habe ich das Gefühl, mich in der Etage geirrt zu haben, verirrt in einem Haus, über dessen Eingang ein Schild angebracht ist, auf dem in den unsicheren Krakeln eines Fünfjährigen DAS LEBEN steht. Heute sehe ich geflissentlich über das selbstmitleidige Pathos des Betrunkenen hinweg (in jenen Tagen erwachte meine Neigung zu autobiographischer Bestandsaufnahme erst, wenn ich ein gewisses Level erreicht hatte, ein Level, das bei etwa vier Bier aufwärts lag), mir geht es vielmehr um dieses Gefühl der Verunsicherung, das in obigem Notizbucheintrag weit weniger durch eine Metapher ausgedrückt wird, als es den Anschein erwecken mag: Im Alter von fünf Jahren hatte ich mich tatsächlich einmal in der Etage geirrt. Damals besuchte ich mit meinen Eltern «Onkel» Richard, einen zotenreißenden Kegelbruder meines Vaters. Was «Onkel» Richard von Beruf war, weiß ich nicht mehr. Irgendwas mit Holz. Jedenfalls hatte er Geld und veranstaltete regelmäßig Gesellschaften mit Tanz und kaltem Büffet. Im Mittelpunkt dieser Feiern stand nie er, sondern seine um einige Jahre jüngere Frau, «Tante» Monika. Sie trug zur Freude aller anwesenden Kegelbrüder tief dekolletierte Kleider und war unglaublich doof. So ersetzte sie mit kokettem Augenaufschlag die Vokale vermeintlich anstößiger Wörter durch mit Pünktchen bekleidete Umlaute. Dem-und-dem gehöre mal so richtig der «Ärsch» versohlt, konnte sie sich empören, oder sie erzählte, Richard sei es wegen eines aufgewärmten Fischgerichts so schlecht gegangen, dass er die ganze Nacht lang «gekötzt» habe, wobei sie das «ö» in die Länge zog und mit einer Achterbahnfahrt heiterer Tremoli verzierte.
Ich erinnere mich noch gut, wie sie mich, als ich vom «Klöchen» kam, mit der Frage bestürmte, ob ich ein kleines oder (dramatische Pause) großes Geschäft gemacht habe. «Klein», log ich. Sie nestelte an meinem Hosenladen herum und schob mich nach einigen Tätschlern aufs «Pöpili» ins Wohnzimmer zu den übrigen Gästen. Hier diskutierte Vater über Politik, Mutter half wohl in der Küche beim Garnieren der Platten, gelangweilt aß ich einige Cracker, stopfte mir die Hosentaschen mit Fischlis voll und schlenderte unbeachtet zwischen den Erwachsenen umher, bis mir «Onkel» Richard einige Münzen in die Hand drückte und mich zum Zigarettenautomaten an der Ecke schickte. «Der hängt so tief, da kommst du dran, kleiner Mann! Meine Hausmarke heißt Lasso. Wie das Ding, mit dem die Herren Cowboys die Kühe fangen.» Ha! Wenn der denkt, ich weiß nicht, was ein Lasso ist, hat er sich geschnitten! Breitbeinig wie ein Westernheld näherte ich mich dem Zigarettenautomaten und wartete, bis ein älteres Ehepaar vorbeispazierte. Erst dann warf ich mit größter Selbstverständlichkeit die Münzen ein und zog am Griff