Fahlmann. Christopher Ecker
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An der Rückwand des Seminarraums, in dem ich lesen sollte, hatte man mehrere Tische in einer pornographischen Assemblage versammelt: Sie kletterten übereinander, besprangen sich und reckten in wohliger Trägheit die nackten Metallbeine in die Luft. Nur ein einziger Tisch distanzierte sich von dem schamlosen Treiben, ein Tisch, den eine Leselampe und ein umgestülptes Glas als mein «Pult» kenntlich machten. Ich drehte das Glas um, stellte die mitgebrachte Wasserflasche, kohlensäurearm, rülpsfeindlich, so daneben, dass nur ich allein das Etikett lesen konnte, knipste die Lampe an, sie funktionierte, noch sechsundzwanzig Minuten, knipste sie aus und saß ähnlich ausgeknipst vor den leeren halbmondförmig aufgebauten Stuhlreihen. Aus dem Ranzen des Mädchens war ein Schulbuch auf die Straße gerutscht, Mathematik, viertes Schuljahr, ich zwang mich, an den Ameisenbären im Bordell zu denken, tap, tap, tadap, krebsten meine Finger in nervösen Märschen über die Tischplatte, noch zweiundzwanzig Minuten, dachte ich, eine nackte Frau sitzt in der Badewanne, dachte ich, Großvater kam mit kleinen, vorsichtigen Schritten in den Raum geschlurft.
Ich stand auf, ging ihm entgegen. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, bereitete ihm das Gehen größere Mühe. Lediglich seine Augen schienen nicht so rasch zu altern wie der Rest des Körpers; es waren verschmitzte Augen, seltsam vergrößert durch lupendicke Brillengläser.
«Aufgeregt?», fragte er mitfühlend.
«Ich sage nicht ja, ich sage nicht nein.»
«Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.»
Ich sah ihn verständnislos an.
«Es wäre schlimm, wenn du nicht aufgeregt wärst.»
«Na ja, ich weiß nicht. Irgendwie ist es absurd, wenn man – ach, wünsch mir doch einfach Glück!»
Er klopfte mir auf die Schulter und suchte sich einen Sitzplatz. Ich verdrückte mich, um im Flur eine Zigarette zu rauchen. Die ersten Besucher kamen. Ein Germanistikstudent, den ich vom Sehen kannte, grüßte mich, spähte in den Saal, entdeckte Großvater und wollte witzig sein.
«Der alte Sack», sagte er, «hat sich bestimmt im Raum geirrt»
«Das mag wohl sein», murmelte ich und ersann blitzschnell eine elegante und äußerst schmerzhafte Methode, Großvater zu rächen, eine Methode zudem, die jede Gewalttat an Heimtücke übertraf. «Ich hab dir was zu gestehen», sagte ich. Er näherte sich erwartungsvoll. Ich setzte eine bekümmerte Miene auf. «Es handelt sich um etwas höchst Vertrauliches. Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden. Kurz und gut», ich senkte die Stimme: «Du riechst unbeschreiblich aus dem Mund. Weißt du, wie sie dich nennen?»
«Wie?», schnappte er atemlos.
«Sie nennen dich Mister Mundgeruch.»
Mit belegter Stimme: «Wer?»
«Alle an der Uni nennen dich so. Weißt du noch, wie Professor Capart vor deinem Atem zurückgewichen ist, als du ihn mal nach einer Seminarsitzung was gefragt hast? Richtig zurückgezuckt ist der. Und ‹Puh!› hat er gesagt, ganz leise, aber wir habens alle gehört. Tja, seitdem nennen sie dich so. Wirklich alle. Sogar die Erstsemester nennen dich Mister Mundgeruch.»
Er bedankte sich für meine Ehrlichkeit, verstrickte sich in unzusammenhängenden Bemerkungen über unverträgliches Mensaessen und bitteren Automatenkaffee und betrat den Raum, in dem ich gleich lesen musste, um dort sichtlich angeschlagen zwischen den Stuhlreihen umherzuirren. Ich war beeindruckt. Er hatte sogar die Sache mit Capart geschluckt – und das, obwohl er kein bisschen aus dem Mund roch! Zufrieden rauchte ich eine zweite Zigarette, sitzt die Frau also splitterfasernackt in der Badewanne, klopf, klopf, klopf, kommt der Klempner rein, hallo Georg! «Wie schön, dass Sie gekommen sind.» Ich begrüßte eine von Mutters unsympathischen Herrenbekanntschaften mit Handschlag und flitzte danach zur Toilette, um weiterem Händeschütteln zu entgehen. Als Jens in den Kindergarten ging, erzählte er uns eines Tages, sie hätten den ganzen Vormittag damit zugebracht, «richtiges Handgeben» zu lernen, und er solle es jeden Tag mit seinen Eltern üben. Ich vermutete, dass er was ins falsche Ohr bekommen hatte, aber als ich einige Tage später eine gezielte Nachforschung im Katholischen Kindergarten anstellte, bestätigte seine Kindergärtnerin, eine Nonne, nicht nur den widersinnigen Bericht meines Sohnes, sondern belehrte mich darüber hinaus, dass viele Menschen die Wichtigkeit eines selbstbewussten Händedrucks unterschätzten. Dies tat sie nicht ohne versteckten Vorwurf, denn mein Händedruck ließ in ihren Augen offensichtlich sehr zu wünschen übrig. «Dabei ist gerade der erste Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch der entscheidende», dozierte sie selig. «Ein fester, selbstsicherer Händedruck kann Berge versetzen.» Nonnen tun mir immer leid. Sie sehen aus wie Raben und können nicht fliegen. «Ich glaube nicht», widersprach ich höflich, «dass man schon im Kindergartenalter …» – «Doch!», sagte sie. «Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, Herr Fahlmann!» Vielleicht sollte ich Jens zu meiner nächsten Lesung mitnehmen, damit er das Publikum mit professionellem Händedruck begrüßte, hallende Stimmen im Korridor, nahendes Gelächter, ich durchquerte einen kleinen Vorraum (Waschbecken, Spiegel, Händetrockner), kam in einen weißgekachelten Würfel, linker Hand die Pissbecken, gegenüber zwei Toilettenkabinen, es roch vertrauenserweckend nach Sagrotan, ich belegte die rechte Kabine, ließ die Hosen runter, blätterte in meinem Buch, konnte mich nicht entscheiden, mit welchem Teil ich die Lesung beginnen wollte. Jemand betrat die Herrentoilette, Schritte endeten vor einem Urinal, ein Reißverschluss wurde runtergezogen, und nach einer Weile konzentrierten Schnaufens setzte ein zaghaftes Plätschern ein, das zunehmend an Intensität gewann.
Eine zweite Person betrat den Raum, sagte etwas zu der ersten, das ich nicht verstand, Schritte, erneut wurde ein Reißverschluss geöffnet, und als zu dem ersterbenden Plätschern ein kraftvoll sprudelndes hinzukam, wurde ich Zeuge eines beunruhigenden Gesprächs. «Ich konnte draußen nicht so deutlich werden, aber ich halte das, was er schreibt, für Scheiße, für absoluten Blödsinn.» – «Ich auch.» – «Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier.» – «Ja, die Frauen und die Literatur!» Beide lachten, ein Reißverschluss wurde energisch hochgezogen, dann gestand der zweite: «Ich bin auch nicht freiwillig hier. Mir hat», ein Name, den ich nicht verstand, «ne Freikarte geschenkt. Da konnte ich schlecht nein sagen. Außerdem kenn ich ihn», damit war wohl ich gemeint, «flüchtig.» Entschuldigend: «Von der Uni.» Im Geiste sprengte ich die Toilettentür mit einem Tritt auf, brüllte «Überraschung!» und hüllte sie in die lodernde Aureole eines Flammenwerfers. Ein Urinal gurgelte, Schritte, Tür auf, beide verließen die Herrentoilette, ohne sich die Hände gewaschen zu haben, Tür zu, auf dem Schoß mein Buch, an der kühlen Klotür meine Stirn. Auch ein Erlebnis wie dieses, stellte ich fest, kann das Gefühl der Verunsicherung hervorrufen, dem ich mich vorhin in schwerfälliger Metaphorik zu nähern versuchte, indem ich von falschen Etagen, umherirrenden Métros und ausgesetzten Betrunkenen sprach. Was waren das für Menschen? Einer spülte nicht ab. Der andere zog seinen Reißverschluss nicht hoch. Eine lähmende Unsicherheit lag unter der Oberfläche der Welt wie eine straff gespannte Membran und ließ die Wirklichkeit vibrieren. Ruhig werden. Ich muss ruhig werden. «Guten Tag», sagte ich, «es freut mich sehr, dass Sie so zahlreich erschienen sind.» Der Klang meiner Stimme gefiel mir nicht. Irgendwie heiser. Hätte heute nicht so viel rauchen dürfen! «Guten Tag», übte ich tapfer weiter, «eigentlich wollte ich ja auf der Toilette lesen, vor einem anonymen, aber nichtsdestotrotz kritischen Publikum …» Ich wischte mir den Arsch ab. Die beiden Kerle sitzen