Fahlmann. Christopher Ecker
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«Wir brauchen das Foto morgen früh!», hatte mich Marsitzky mit überschlagender Stimme angerufen. «Das Buch geht nächste Woche in Druck. Um Himmels Willen, Sie müssen doch irgendein Bild von sich im Haus haben!» Ich wühlte mit wachsender Verzweiflung im Schuhkarton mit den Familienfotos. Auf einem trug ich einen doofen Hut, auf vielen schnitt ich Grimassen. «Sich Fotografien, auf denen man selbst drauf ist, zu betrachten», sagte ich, «ist fast so schlimm, wie sein Spiegelbild in der Sonnenbrille von jemandem zu sehen, den man nicht leiden kann und der nicht blind ist.» Nein, vergessen Sie das! Das habe ich nicht gesagt. Nie gesagt. «Ich sehe auf allen fürchterlich aus.» Das habe ich gesagt oder etwas in der Art. «Und was ist damit?», fragte Susanne und nahm einen Schnappschuss aus der Schachtel, den Jens im vorigen Sommer von mir gemacht hatte. «Das kannst du nehmen! Das ist gut!» – «Aber da sitze ich doch in Lambaréné», warf ich ein. – «Ist doch scheißegal», sagte sie. «Bild ist Bild.» – «Meinst du nicht, dass ich da etwas zu blöd aussehe?» – «An deiner Stelle würd ichs nehmen.» Ihr Haar wallte über meine Schulter, wir betrachteten das Foto, und da Om darauf um meine nackte Wade strich, fragte ich ihn, ob ich es nehmen sollte. Aber Katzen sehen keine Bilder. Katzen wollen nur wissen, was sich hinter den Dingen befindet, die man ihnen vor die Nase hält. «Om würds nicht wegschicken», vermutete ich. «Es ist ein gutes Bild», sagte Susanne. «Außerdem würdest du Jens damit eine große Freude machen.»
Dieses Argument gab den Ausschlag. Fotografie: Jens Fahlmann, stand nun im Impressum, Reinheit aus 124 Meter Brunnentiefe, jubelte das Etikett der Sprudelflasche, erwartungsvolle Stille kehrte ein, die letzten Huster verklangen, jemand knisterte kurz und energisch mit einer Plastiktüte. Ich würde, wusste ich auf einmal, die Lesung mit einem lange überfälligen Exkurs über die vermeintliche Ernsthaftigkeit meiner Lyrik eröffnen – aber hieß es nun «Seriosität» oder «Seriösität»? Um den drohenden Blackout zu überwinden, einen wildwuchernden Tintenfleck im Sprachzentrum, begann ich mit höflichem Gestammel. «Vielen Dank, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Normalerweise gibt es eine Einführung, aber Frau Jeckel», erschrocken bemerkte ich, dass ich kicherte, «also Frau», ich riss mich zusammen, «Jeckel von der VHS hat heute noch eine andere Veranstaltung. Ähm … ja … Ich lese nun aus meinem Gedichtband», befangenes Räuspern, «schWEINe-essIG. Das Buch besteht aus fünf Teilen. Sie heißen: narrenbutter, schWEINe-essIG, fischmützencocktail, das FRATT und mond-schein-parade.» Ein Mann in der ersten Reihe knarzte mit seiner Lederjacke. Grimmiges Gesicht, schlaffe großporige Hamsterbacken, vor der Brust verschränkte Arme. Mein Blick strich übers Publikum, wurde hektischer, zuckte schließlich wie eine Flipperkugel hin und her, erstarrte, Inge. Inge! Inge saß neben mir im Thomas-Mann-Hauptseminar. Ihre Handrücken waren immer verkratzt. Sie musste sich mit ihrer Katze unglaubliche Gefechte liefern. Schwarze, fast blau glänzende Locken, Nasenring, gut, dass Susanne nicht hier ist, ich fühlte mich immer schuldig, wenn ich in ihrem Beisein mit einer schönen Frau plauderte. Das Schlimme daran war, dass ich mich im Bewusstsein einer mehr oder weniger grundlosen Schuld wirklich wie ein Schuldiger verhielt, so dass Susanne zunehmend skeptischer mich und meine Gesprächspartnerin musterte.
Kaum hatte ich Inge im Publikum ausgemacht, meldete sich der für Strategie zuständige Teil meines Gehirns zu Wort: Ich müsste sie morgens besuchen, abends wäre ungünstig, da könnte Susanne was mitbekommen, Dialoge wurden vorskizziert, ich hantierte mit unbekannten und bekannten Größen (Susanne), Inge kam im Seidenhöschen aus dem Badezimmer. Und wenn sie direkt nach der Lesung geht? Was dann? Neben Inge saß ein junger Mann mit Koteletten und Dreitagebart. Vielleicht war er nur wegen ihr hier? Stünde sein Hosenladen offen, würde das mein Toilettenrätsel zur Hälfte lösen. Einer kannte mich von der Uni (A), der andere (B) war mit seiner Freundin hier. Roch A nicht aus dem Mund? Wenn ja, dann kannte ich ihn. Legte B Inge flach? Wenn ja, wie oft? Und woher kannten sich A und B? Aus dem Georg-Fahlmann-wir-finden-dich-scheiße-kommen-aber-trotzdem-zu-deiner-Lesung-Club? In einem Kriminalroman der alten Schule hätte ich mich in der Klokabine auf den Boden gekniet, um unter der Tür hindurch einen Blick auf Schuhe und Hosenbeine der Unbekannten zu erhaschen, Wolfgang, Susanne trifft sich mit Wolfgang, ein Räuspern, das nach Großvater klang, riss mich aus meinen Gedanken, anfangen, da hat er recht, ich muss endlich anfangen, und im salbungsvollen Tonfall eines Laienpredigers las ich das erste Gedicht der mond-schein-parade:
unfug mit dem feuerlöscher
das ist der wahre jakob
und hip hip hurra
als klosteine durchs urinal «welt»
ich als algebraischer bürgermeister
du als ufologischer hase
dann grinsend im binsenanzug
sesam & co
Ich verlas mich mehrmals (besonders der algebraische Bürgermeister entpuppte sich als kapitaler Stolperstein), baute aber darauf, dass die Abnahme der Aufregung positiv mit der Abnahme der Patzer korrelieren würde. Ich sah auf, ein hübsches Mädchen in der dritten Reihe erwiderte meinen Blick, höchstens vierzehn, die Kleine. Ihr entzückend aufmerksames Gesicht gab mir die Kraft, das zweite Gedicht der mond-schein-parade im atemlos schnarrenden Tonfall eines Wochenschausprechers zu zelebrieren:
hühnereier verprassen
oben am jong bösch
über kekenheck
gott aufs nattsetzel locken
klebt da wie eine fliege
auf dem fliegenpapier
in der küche meiner großmutter
väterlicherseits
Niemand wagte zu lachen, schließlich war das Buch in einem angesehenen Verlag erschienen. Die Lederjacke in der ersten Reihe knarzte nachdenklich. Na, Freunde, wie viel haltet ihr aus, ohne zu lachen? Ich verspürte das verhängnisvolle Verlangen, zu improvisieren. Weltmaschine, dachte ich, Weltmaschine, doch zum Improvisieren war es zu früh. Dazu war ich noch viel zu aufgeregt!
dr. nussig der kandis oder zucker
hat tee in der tube (7 liter und mehr)