Bangkok Rhapsody. Thomas Einsingbach
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Williams Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er beendete das Telefonat mit seiner Mutter, erhob sich aus seinem Bürodrehstuhl, schob den Vorhang zur Seite, der die Nische mit der Küchenzeile verdeckte, und brühte sich einen zweiten Instantkaffee auf. William betrachtete sich im Spiegel über dem Spülbecken. Seine Jugend war unwiderruflich dahin. Wie sein Dad wohl mit zweiundvierzig ausgesehen hätte? William fuhr sich über den ungepflegten Mehrtagebart. Viel war nicht geblieben von seiner ehemals athletischen Erscheinung. In den letzten Jahren hatte er fünfundzwanzig Pfund zugenommen und seine blonde Venice-Beach-Mähne hatte sich auf ein dünnes Gestrüpp reduziert, mit dem er notdürftig eine hohe Stirn verdeckte.
William nahm seinen Kaffeebecher und trat auf den Balkon hinaus, der zur Park Avenue zeigte, wo sich der morgendliche Berufsverkehr durch Hobokens Stadtzentrum schob. Er steckte sich eine Lucky Strike an und sog das Nikotin tief in die Lungen. Park Avenue in Hoboken, Downtown! Kein Vergleich mit Manhattans Park Avenue, aber weiß Gott nicht die schlechteste Adresse für einen lausigen Einmannbetrieb, der private Ermittlungen aller Art anbot und dessen teuerste Investition das glänzende Messingschild am Hauseingang gewesen war. Bildfetzen tauchten vor Williams innerem Auge auf: Sein Vater lächelte ihn an. Strahlend weiße Zahnreihen. Saphirblaue Augen. Eine schützende Hand streichelte liebevoll über sein Haupt. William versuchte diese Bilder zu verdrängen. Warum quälte ihn eine fortwährende Sehnsucht nach diesem Mann, den er nie wirklich gekannt hatte, und der vor Jahrzehnten vom Erdboden verschluckt worden war.
3
Ein kalter Nordostwind peitschte durch die Washingtoner Constitution Avenue, auf der an diesem unwirtlichen Morgen die ersten der vielen tausend Angestellten, in dicke Mäntel gehüllt und mit dampfenden Kaffeebechern in den Händen, in die Ministerien des Regierungsviertels strebten.
Die Chefetage des Justizministeriums war, wie üblich, schon seit geraumer Zeit hell erleuchtet. Melinda Rodriguez, die erste Frau in der amerikanischen Geschichte, die den Titel United States Attorney General trug, betrachtete versonnen ihren Kaffeebecher mit dem Amtssiegel und dem Aufdruck „Qui Pro Domina Justitia Sequitur“, was so viel wie „Derjenige, der die Angelegenheiten Justitias erledigt“ heißen sollte. Ein merkwürdiges Motto, dachte sie. In den letzten zwei Jahren hatte Melinda lernen müssen, wie viele Widerstände sich ihrem Kampf für Recht und Gesetz entgegenstellten. Nicht allen ihrer Gegner ging es dabei um sachliche Auseinandersetzungen, vielmehr zielten die Angriffe auf ihre Person. Nicht alle des Washingtoner Establishments konnten sich mit der Tatsache anfreunden, dass mit Melinda Fortuna Rodriguez ein neuer Stern am Firmament der amerikanischen Machtpolitik aufgegangen war.
Sie nippte an dem Getränk. Dünner Behördenkaffee. Eine schreckliche Brühe. In jeder mexikanischen Dorfkneipe gab es bessere Qualität. Melinda erhob sich aus ihrem Chefsessel und betrat ihre private Rückzugsmöglichkeit, ein Bade- und ein Schlafzimmer, die sich hinter einer holzvertäfelten Tür versteckte. Sie schaltete die Beleuchtung über dem Schminktisch ein und entdeckte in ihrer brünetten Löwenmähne ein paar graue Haarbüschel. Ein Termin beim Friseur zum Nachfärben war dringend erforderlich. Mit einem weinroten Lip Stylo frischte sie ihr Lippen-Make-up auf. Anschließend tupfte sie mit einem transparenten Gel ihre getrimmten Augenbrauen ab, die mit ihrer gradlinigen Ausrichtung gut in ihr rundliches lateinamerikanisches Gesicht passten. Melindas Vater war ein mexikanischer Farmarbeiter indianisch-spanischer Abstammung gewesen. Auch seiner Tochter sah man an, dass sie die Gene der Nahua-Indianer, Nachkommen der stolzen Azteken, in sich trug.
Die antike Standuhr in Melindas Amtszimmer zeigte sechs Uhr dreißig, als ihr Büroleiter Jonathan Robson mit einem triumphierenden Lächeln den Raum betrat. In der Hand balancierte er ein Tablett mit zwei Latte macchiato und einer Gebäckauswahl aus dem italienischen Bistro im Erdgeschoss des Justizministeriums.
„Melinda“, strahlte Jonathan, „es gibt erfreuliche Neuigkeiten. Sichere Informationen aus verlässlicher Quelle.“
„Wo ist er diesmal untergetaucht?“ Melinda griff nach einem Pappbecher und einem Brownie.
„Alles deutet darauf hin, dass er sich in Bangkok aufhält.”
„Bangkok? Eine Stecknadel im Heuhaufen dürfte leichter zu finden sein.“
„Sechzehn Millionen Einwohner, davon ein paar zehntausend weiße Ausländer mit dauerhafter Aufenthaltserlaubnis, dazu eine unbekannte Anzahl Illegaler. Nicht einfach, aber auch nicht unmöglich.“
„Seine Tarnung ist immer perfekt. Sein Netzwerk von Unterstützern reicht bis in höchste CIA-Kreise.“
„Das mag stimmen, aber ein professioneller, mit Bangkok vertrauter Exposer und ein wenig Glück …“, gab sich Jonathan zuversichtlich.
„Was schlägst du vor?“
„Wir operieren zunächst inoffiziell. Je weniger Leute von unserem Plan wissen, desto besser. Wir können keinen Agenten aus dem aktiven Dienst einsetzen. Dann werden Vorgesetzte eingebunden, thailändische Behörden erhalten Vorabinformationen …“
„ … und auf wundersame Weise ist das flüchtige Reh wieder verschwunden. Du erinnerst dich an die Beerdigung seiner Mutter in Chicago vor fünf Jahren?“, unterbrach Melinda. Natürlich erinnerte sich Jonathan. Melinda war damals noch Abteilungsleiterin und er selbst gerade aus dem FBI-Dienst ausgeschieden und als Berater ins Justizministerium gewechselt. Sie hatten den Fisch schon an der Angel gehabt. Dann führte eine Indiskretion zur Katastrophe. Die Zielperson schien sich in Luft aufgelöst zu haben und drei FBI-Agenten wurden tot in einem stillgelegten Bergwerk gefunden. Nur mit Mühe und Not konnte verhindert werden, dass diese misslungene Aktion an die Öffentlichkeit drang.
„Ich habe einen Mann im Sinn, der passen könnte. Er ist asienerfahren und der beste Ermittler, den ich kenne. Er riecht seine Klienten, Erfolgsquote nahe einhundert Prozent.“
„Wo viel Licht, da hat’s auch Schatten.“ Melinda blickte Jonathan skeptisch an.
„Ich kenne ihn seit seiner Kindheit und habe lange mit seinem Vater zusammengearbeitet. Der Junge ist besser als sein Dad und war bereits in Thailand im Einsatz. Vor ein paar Jahren hat er aus persönlichen Gründen das FBI verlassen und in New Jersey eine private Ermittlungsagentur eröffnet.“
„Ich hatte nach dem Schatten gefragt“, erinnerte ihn Melinda.
„Schatten?“
Jonathan schob seine grauschwarze Hornbrille auf seiner flachen Nasenwurzel zurecht. „Der Junge ist instinktgesteuert, hoch emotional, aber in jeder Hinsicht loyal. Das garantiere ich.“
„Jonathan, wenn wir inoffiziell und mit einem Freelancer arbeiten, lautet die entscheidende Frage: Ist dein Mann kontrollierbar?“
4
Der Nacht-Express verlies um drei Uhr fünfzehn die