Bangkok Rhapsody. Thomas Einsingbach

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Bangkok Rhapsody - Thomas Einsingbach

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er damals in die Abgründe seiner Seele geblickt hatte? William schloss die Augen in der Hoffnung, eine Antwort zu finden. Wie hätte sein Dad dieses Gefühlschaos aufgelöst? Kaum hatte sich William diese Frage gestellt, sah er vor seinem inneren Auge seinen Vater mit wehendem blonden Haarschopf. Auch Special Agent Vincent LaRouche schien ratlos zu sein. Glücklicherweise schob sich nun ein anderes virtuelles Bild über das der väterlichen Ikone. Ein dunkelhäutiger Mann wandte sich ihm zu. Es war Jonathan. Der Alte drückte ihn an seine Brust und versprach mit einer tiefen Bassstimme: „Mein Junge, du kannst dich auf mich verlassen. Ich bin immer für dich da.“ Es war die Abschiedsszene, als sich Jonathan vor vielen Jahren von seinem kleinen Billy-Boy verabschiedet hatte und am nächsten Tag Lake View und New Orleans für immer den Rücken kehrte.

      Als William die Augen wieder öffnete, war Jonathan verschwunden. Im ersten Moment spürte er eine Art Erleichterung. Jon war wortlos gegangen. William schämte sich. Dieser Mann hatte ihm Halt und Orientierung gegeben und sich, solange er denken konnte, um ihn gesorgt. Nun war Jon mit einer Bitte an ihn herangetreten und hatte dafür eine kalte Absage erhalten.

      Selbst wenn das kindliche Idealbild, das er von seinem Vater in sich trug, nur in Bruchteilen der Realität entsprach, Special Agent Vincent LaRouche hätte seinen Kameraden und Freund nicht im Stich gelassen. Niemals!

      William rauchte eine weitere Lucky Strike. Dann zog er sein Mobiltelefon aus der Manteltasche. Seine Finger flogen über die Tastatur: „Jon, ich nehme den Auftrag an, was immer es auch sein mag. William.“

      Nicht einmal zwei Wochen waren es noch bis zum thailändischen Loy-Krathong-Fest, der stimmungsvollen Verabschiedung der Regensaison, die sich in diesem Jahr ungewöhnlich ergiebig gezeigt hatte.

      Am Nachmittag war wieder ein tropischer Wassersturm über Bangkok hinweggefegt. Wie gewöhnlich brachte dieses Naturspektakel nur eine kurze Abkühlung und Erleichterung. Mit dem einsetzenden Feierabendverkehr lag Thailands Metropole schon bald wieder unter einer dampfenden Dunstglocke aus Industrieemissionen und Verbrennungsprodukten der unzähligen mobilen Giftschleudern, die im Schneckentempo über den aufgeheizten Asphalt schlichen.

      Die aufsteigende Verdunstung der Wassermassen, die das Unwetter ausgespuckt hatte, vermischte sich mit der säuerlich-scharfen Transpiration der sechszehn, vielleicht auch achtzehn Millionen, die Bangkok bevölkerten. Jedes einzelne dieser menschlichen Lebewesen mochte seine persönliche Strategie gegen dieses unerträgliche Gemisch haben, aber keines konnte verhindern, dass die Temperaturen an jedem verfluchten Tag eines Jahres zuverlässig die Dreißiggradmarke überschritten. Für einen Farang, einen weißen Ausländer, fühlte sich dieser Spätnachmittag ungefähr so an, als ob er den Deckel eines mit brodelnder Brühe gefüllten Waschzubers abhob und seinen Kopf in den heißen Wassernebel mit undefinierbaren Geruchsnoten steckte.

      Jürg Bertoli verließ den Waggon des Bangkok-Transit-Systems an der Station Nana. Sofort wurde er vom Strom der dampfenden Leiber aufgesogen, die sich durch das Labyrinth aus Ladenpassagen und über die horizontalen und vertikalen Verbindungswege schoben. Aufgebockt auf turmhohe Betonstelzen, schwebte diese zähflüssige Parallelwelt hoch über dem darunterliegenden Gewirr der Boulevards und Gassen. Jeder schien in diesem Gewusel zu wissen, wohin er wollte, und auch Bertoli beschritt eine Rolltreppe, die ihn hinunter zur Einmündung der siebten Quergasse in den Sukhumvit Boulevard führte. Er bahnte sich den Weg zum Horny House am Ende der Soi Seven, vorbei an Verkaufsständen mit Plastiktand und buntem Kunstfaserfummel, Garküchen, Bierkneipen und den als Massagesalons getarnten Bordellen. Seine rechte Hüfte zwickte unerbittlich, aber die Fahrt mit einem Taxi ins vorabendliche Gewimmel der Gassen rund um Nana Plaza wäre ein zeitlich unkalkulierbares Unterfangen gewesen.

      Als Bertoli das Horny House betrat, stand ihm der Schweiß auf der Stirn und unter den Hemdachseln zeichneten sich dunkelfeuchte Satteltaschen ab. Eine sparsam bekleidete Angestellte entbot mit aneinandergelegten Handflächen einen Wai, den traditionellen thailändischen Gruß. Dann reichte sie ihm ein gekühltes Handtuch und öffnete die Flügeltür zum Bühnensaal.

      Es war das erste Mal, dass ihn Vitikorn in dieses Etablissement bestellt hatte, das zweifellos eine Perle im Geschäftsimperium des Polizeigenerals darstellte, dessen Amt als oberster Ordnungshüter Bangkoks nur eine Art Nebenbeschäftigung zu sein schien. Bertoli hatte Mühe, in dem mit barocken Imitaten und erotischen Anspielungen überladenen Raum die geschäftsführende Mama-san zu entdecken. Als sich seine Augen an die schummrige Beleuchtung gewöhnt hatten, sah er eine überschminkte Mittvierzigerin, deren Lesebrille an einer goldenen Kette über dem prall gefüllten Ausschnitt eines paillettenbesetzten Abendkleides baumelte. Sie sortierte mit atemberaubender Geschwindigkeit mächtige Geldbündel und addierte die Zwischensummen mit einer knatternden Rechenmaschine. Die Dame schien ganz und gar im Reich des Mammons versunken zu sein und erwies dem neuen Gast nicht die Spur einer Beachtung.

      „Verzeihen Sie die Störung, mein Name ist Bertoli, ich bin mit Lieutenant General Vitikorn verabredet.“ Als die Mama-san den Namen Vitikorn vernahm, unterbrach sie den Zählvorgang und schenkte Bertoli das liebenswürdigste Lächeln, das sie mit ihrer Gesichtsmaske zustande brachte.

      „Ah, Sie sind der Herr Doktor aus der Schweiz. Ich bin entzückt. Der Lieutenant General wird sicher jeden Moment erscheinen. Sie wissen ja, der Verkehr“, säuselte sie. „Bitte nehmen Sie doch Platz. Was darf ich Ihnen anbieten?“

      Bertoli bestellte ein Mineralwasser und verschwand in der Herrentoilette, wo er den Kaltwasserhahn aufdrehte. Nur in aller Frühe, vor Sonnenaufgang, gab es für kurze Zeit Leitungswasser, auf das die Bezeichnung „kühl“ annähernd zutreffen mochte. So benetzte er nun mit dem lauwarmen Nass sein Gesicht und die Unterarme. Anschließend trocknete er sich mit einem der schneeweißen Handtücher sorgfältig ab. Dabei fiel sein Blick in den goldgerahmten Kristallspiegel über den Waschtischen. An seinen mediterranen Körperproportionen, bei denen ein längerer Oberkörper auf einem kürzeren Unterbau ruhte, war nun einmal nichts zu ändern. Aber die silbergraue Mähne, die sein Haupt krönte, stand ihm ausgezeichnet; dazu kamen der dunkelgraue Vollbart und die graublauen Augen – alles in allem ein gelungenes Arrangement, das seine Persönlichkeit stimmig betonte. Als er in den Gastraum zurückkehrte, nahm er einen Schluck eisgekühltes Mineralwasser und machte es sich auf einem Barhocker bequem.

      Das Horny House war auf den ersten Blick ein erotischer Amüsierclub, wie es sie zu hunderten in Bangkok gab. Bertoli hatte allerdings schon von dessen Ruf als Geheimtipp für gepflegte Perversionen gehört. Nichts deutete zu dieser Tageszeit darauf hin, dass dieses Lokal Thailands Premiumadresse für anspruchsvolle Asiaten und westliche Ausländer war, die Sadomaso-Sex mit Kathoeys suchten; mit jungen Männern, die sich als Frauen in einem männlichen Körper fühlen. Nach ihren Showeinlagen auf der Drehbühne standen die willigen Ladyboys zahlungskräftigen Kunden als Lustobjekte in Separees, Suiten oder Folterkellern zur Verfügung. Die passende weiblich-erotische Kleidung, die Frisur und das Make-up waren für eine Kathoey das kleinste Problem. Die sehnsüchtig erträumten chirurgischen Eingriffe mussten dagegen mühselig verdient werden. Brustvergrößerungen, komplizierte Umbauten im Genitalbereich, Aufpolsterungen der Gesäßpartie, Hormonkuren – alle Hebel wurden in Bewegung gesetzt, damit eine Kathoey äußerlich ihrer Vorstellung einer perfekten Frau entsprechen konnte und ihre Seele ins Gleichgewicht zurückfand. Spitzenverdiener der Szene leisteten sich mitunter riskante operative Manipulationen an den Stimmbändern, damit endgültig alles Männliche an ihnen beseitigt war.

      Um diese frühe Stunde herrschte im Horny House noch gähnende Leere. Das Revueprogramm begann nicht vor neun Uhr abends. Ein halbes Dutzend Nachwuchs-Kathoeys, denen man ihre noch nicht nachhaltig überwundene Männlichkeit ansah, alberten an einem Ecktisch herum. Einige stärkten sich für ihre Auftritte am späteren Abend mit allerlei Gesottenem und Gegrilltem. Andere waren dabei, sich aufzutakeln, künstliche Wimpern zu montieren und ihre Röckchen und ausgestopften Büstenhalter

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