Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer
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Für Meyer war die Neue Zeit das gegebene Forum, um auf die der europäischen Landwirtschaft drohenden Gefahren durch die wachsende überseeische Konkurrenz aufmerksam zu machen und für eine Agrarreform großen Stils zu werben. Die Verschärfung der Konkurrenz, so der cantus firmus aller seiner Beiträge, treibe auch im Agrarsektor die Konzentration und Zentralisation voran, wie dies nach Marx und Engels in der geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation lag.119 Sei dies zur Zeit der preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch vor allem auf Kosten der Bauern gegangen, so habe sich daran eine »Latifundienbildung« durch Aufkauf der Rittergüter durch Großgrundbesitzer angeschlossen.120 Jetzt zeichne sich ein weiteres Stadium ab: die »Entindividualisierung der Unternehmungen« durch den Übergang der Eigentumstitel auf Hypothekenbanken oder durch Umwandlung in Aktiengesellschaften.121 Die Folgen seien verheerend. Der ländliche Mittelstand werde vernichtet122, Kleineigentümer und Landarbeiter würden zur Auswanderung getrieben und die noch Verbliebenen infolge der niedrigen Löhne und der miserablen Ernährung außerstande gesetzt, die von der technischen Entwicklung bereitgestellten komplizierten Feldmaschinen zu bedienen.123 Mit einer derart heruntergebrachten ländlichen Bevölkerung, so Meyer, sei Preußen und damit Deutschland international gesehen nicht mehr wettbewerbsfähig, darüber hinaus auch nicht einmal mehr kriegsfähig, was angesichts der zunehmenden Gefahr eines militärischen Konfliktes mit Rußland, wenn nicht gar eines Weltkriegs, in höchstem Grade bedrohlich sei.124 Da die Großagrarier aufgrund kurzfristiger Profitinteressen künstlich das Getreide verknappten, entweder durch Zwischenlagerung oder durch die Umstellung der Produktion auf »Zucker, Spiritus und Stärke für das Ausland«, sei schon im Frieden mit einer Verteuerung der Lebenshaltungskosten in der Stadt wie auf dem Land zu rechnen, im Kriegsfall mit einem totalen Kollaps der Nahrungsmittelversorgung125 – eine Prognose, die sich einige zwanzig Jahre später auf drastische Weise erfüllte. Einige Tausend Großgrundbesitzer im deutschen Osten, so Meyers Fazit, belasteten das ganze deutsche Volk mit einer indirekten Steuer, weil sie nicht mehr genügend Grundrente erzielten. Hohe Grundrente aber sei
»kein Staatsinteresse, noch weniger eine Anhäufung von Latifundienbesitz, der das Land entvölkert. Und zudem ist der Staat ohnmächtig, die meisten der jetzigen Großgrundbesitzer zu schützen, er schützt hauptsächlich die Hypotheken-Aktien-Banken und hilft ihnen, die subhastirten Großgrundbesitzer auszukaufen, ohne daß sie selbst dabei zu Grunde gehen. Das hat Rodbertus mit Trauer geahnt und zu vermeiden gesucht. Aber die Regierung hat seine Rathschläge nicht befolgt. Und so wird es bald kommen, daß die Söhne und Enkel der Expropriateurs der Bauern und Büdner ihrerseits exproprirt werden durch die Hypotheken-Aktien-Banken, durch das anonyme, souveräne Kapital!«126
Hoffnung schöpfte Meyer immerhin aus der Beobachtung, daß in neuen Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Kanada zwar nicht der Latifundienbesitz, wohl aber der Latifundienbetrieb bereits im Absterben begriffen sei und in zunehmendem Maße großbäuerlichen Betrieben weiche.127 Der preußische Staat sei deshalb gut beraten, sich auf diese Tendenz einzustellen. Anstatt Rentengüter unter Bedingungen einzurichten, die à la longue zu einer »moderne[n] ländliche[n] Leibeigenschaft« führen würden128, solle er lieber all jene Großgrundbesitzer aufkaufen, welche ohne Kornzölle nicht bestehen könnten, und alsdann sukzessive alle Schutzzölle, auch die industriellen, aufheben.129 Wenn nötig, könne man zum Mittel der Expropriation greifen, wie dies in Irland geschehe, wo die Regierung einen großen Teil der Grundbesitzer enteigne und sie zwinge, »ihre Gründe an die bisherigen Pächter zu veräußern.« 130 Denkbar sei auch, sie in Domänen zu verwandeln, auf denen der Staat Lebensmittel für das eigene Volk produzieren könne.131 In jedem Fall aber sei es geboten, alle landwirtschaftlichen Großbetriebe mit mehr als 100 ha, unter Umständen auch Kleingüter von 20 bis 100 ha, unter Staatsaufsicht zu stellen; auf diese Weise werde es möglich, Anbaupläne zu entwerfen, die eine ausreichende Ernährung der Bevölkerung mit Getreide sicherstellten.132 Ergänzend sollten alle Zölle auf notwendige Lebensmittel aufgehoben werden, desgleichen die Exportprämien auf Zucker und Spiritus; sollte dies nicht genügen, könnten auch Ausfuhrzölle auf diese Produkte sowie auf Stärke festgelegt werden.133 Weitere Empfehlungen betrafen die Bildung von Zwangsgenossenschaften bezüglich Drainage, Bewässerung und den Einsatz von Dampfpflügen, außerdem die Einführung eines obligatorischen Heimstättenrechts.134
Zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage empfahl Meyer eine höhere Entlohnung nach englischem Vorbild, bessere Ausbildung und Schutz vor der Konkurrenz durch ausländische Saisonarbeiter, die zumal in Ostelbien die Löhne drückten und à la longue ganz Norddeutschland zu ›polonisieren‹ drohten.135 Wichtig seien außerdem Chancen zum sozialen Aufstieg, insbesondere, indem man Wege eröffne, »den Landlohnarbeiter in einen selbständigen Bauer zu verwandeln, der Herr seiner Productionsmittel und Besitzer seiner Producte ist.«136 Zielten die Anfang der 70er Jahre gemachten Vorschläge noch in erster Linie darauf ab, den Großgrundbesitz zu stärken, indem man ihm seßhaft gemachte, aber nach wie vor auf Lohneinnahmen angewiesene Landarbeiter zur Verfügung stellte, so rückten sie jetzt in eine Perspektive, die vom Gedanken beherrscht war, daß der kapitalistische Großbetrieb seine transitorische Aufgabe erfüllt habe. Wie Max Sering, der zwei Jahre nach ihm Nordamerika bereist und darüber ein umfangreiches Buch publiziert hatte137, sprach auch Meyer von der sinkenden Rentabilität der Riesenfarmen und einer Schwerpunktverlagerung der landwirtschaftlichen Produktion auf die kleinen und mittleren Güter.138 Seine früher geäußerten Bedenken hinsichtlich der Konkurrenzfähigkeit des Kleinbetriebs nahm er explizit zurück. Als er dies geschrieben habe, ließ er Kautsky wissen, habe niemand ahnen können, »dass die ›verflixten‹ Amerikaner solche Feldmaschinen erfinden würden, welche plötzlich den ›intelligenten Kleinmaschinenbauer‹ alle seine Concurrenten schlagen lassen!«139 »Die ›handwerksmäßige‹ Bauernlandwirthschaft«, hieß es an anderer Stelle, erschlage »vor unseren Augen die landwirthschaftliche Fabrik, den landwirthschaftlichen Großbetrieb« und eröffne so die Hoffnung auf eine Wiederkehr der traditionalen Ordnung, mit »schmucken Häuschen für je eine Familie« nebst einigen Knechten, »mit Garten und Feld dabei«. Das klingt wie eine Vorwegnahme des Auenlands der Hobbits bei Tolkien. Auf »große Kraftmaschinen und gewaltige Arbeitsobjekte, wie Schiffskörper und Lokomotiven« wollte Meyer indes nicht verzichten.140
Im Briefwechsel mit Meyer ließen weder Engels noch Kautsky im Zweifel, daß sie solche Szenarien nicht teilten. Für beide war ausgemacht, was gleich zu Beginn des Erfurter Programms von 1891 als Dogma formuliert wurde: daß die ökonomische Entwicklung sowohl im Handwerk als auch in der Landwirtschaft vom unvermeidlichen Untergang des Kleinbetriebes bestimmt sei.141 Der forcierte Ton, in dem diese Überzeugung vorgetragen wurde, vermochte jedoch kaum die Unsicherheit zu überdecken, die sich in den näheren Ausführungen immer wieder zeigte. Sah sich schon Engels gegenüber Meyer zu dem Zugeständnis genötigt, die Entwicklung des Kapitalismus vollziehe sich im agrarischen wie im industriellen Sektor nicht in klar voneinander getrennten Stadien, weil »der Latifundienbetrieb auf die Dauer den Kleinbetrieb und dieser wieder ebenso sehr und ebenso notwendig jenen erzeugt«142, so kam auch Kautsky, obschon erst einige Zeit nach Schluß der Debatte, zu dem Ergebnis, »daß der Kleinbetrieb in der Landwirthschaft keineswegs in raschem Verschwinden ist, daß die großen landwirthschaftlichen Betriebe nur langsam an Boden gewinnen, stellenweise sogar an Boden verlieren«.143