Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter страница 72
Nur alles über sich ergehen lassen … Sich mit aller Gewalt zusammennehmen – ruhig sein – keine Szenen mehr machen! Dann muss der Doktor sie doch für gesund erklären. Darauf kommt jetzt alles an.
Mit einer wahren Verzweiflung klammerte Agathes geängstigte Seele sich an die Konsultation des Badearztes in Röhren. Er musste sie heimschicken – ganz gewiss.
Aber als sie ankamen, verordnete er ihr gleich eine sechswöchige Kur.
Ob sie nicht allein hier bleiben dürfe?
Nein – dazu wäre sie viel zu schwach; ihre Schwägerin müsse sie pflegen und zerstreuen. Ein Glück, dass sie so eine heitere, liebenswürdige Schwägerin bei sich habe.
*
Auf einer grünen baumlosen Hochebene lag das Frauenbad. Sein Kurhaus und die Wohnung des Arztes bildeten den Mittelpunkt, von hier aus streckte sich eine einzige lange Straße von weinumrankten Logierhäusern in die Wiesen hinaus. An ihrem Ende drängten sich die verfallenen Hütten der einheimischen Bevölkerung. Dort saßen hagere Frauen und hustende Mädchen Tag aus, Tag ein über das Klöppelbrett gebeugt und warfen die kleinen Holzpflöcke mit fieberhafter Eile durch das zarte und kostbare Spitzengewebe, das unter ihren Fingern entstand. Von der scharfen reinen Luft drang nur wenig durch die mit Papier verklebten Fensterlöcher. Dass man etwas anderes trinken könne als Zichorienkaffee, dass man sich baden könne, sahen sie wohl, aber sie sahen es wie fremde, unverständliche Gebräuche. Die Milch der Ziegen gehörte den Fremden – die Stahlquellen – die Fichtennadel und Moorbäder waren für die Fremden. Von den Einheimischen bemerkte man wenig, man erblickte nur die fremden weiblichen Gäste. In den Lauben der dürftigen Gärten, wo ein paar Kohlköpfe und eine Reihe Immortellen wuchsen, saßen sie beieinander. Sie standen gruppenweise in der Dorfstraße und klagten sich ihre Leiden. Über die weiten Wiesenflächen konnte man ihre Gestalten verfolgen, wie sie einzeln oder zu zweien die Raine entlang wanderten, kleine Sträußlein von Gräsern und blassen Skabiosen sammelnd als sinnige Gabe für die Freundinnen oder den Doktor.
Frauen – Frauen – nichts als Frauen. Zu Hunderten strömten sie aus allen Teilen des Vaterlandes hier bei den Stahlquellen zusammen, als sei die Fülle von Blut und Eisen, mit der das Deutsche Reich zu machtvoller Größe geschmiedet, aus seiner Töchter Adern und Gebeinen gesogen, und sie könnten sich von dem Verlust nicht erholen.
Fast alle waren sie jung, auf der Sommerhöhe des Lebens. Und sie teilten sich in zwei ungefähr gleiche Teile: die von den Anforderungen des Gatten, von den Pflichten der Geselligkeit und den Geburten der Kinder erschöpften Ehefrauen und die bleichen, vom Nichtstun, von Sehnsucht und Enttäuschung verzehrten Mädchen.
Männer besuchten den Ort nur selten. Ein hysterischer Künstler war jetzt anwesend, ein Oberst a. D., der seine Frau nie allein reisen ließ, und der Arzt.
Um die beiden ersten bekümmerte man sich nicht sehr viel. Aber der Arzt! – Was Dr. Ellrich gesagt hatte, in welcher Stimmung er sich befand, was er für einen Charakter besaß, das bildete den Gesprächsstoff in der Frühe am Brunnen, bei der Mittagstafel und bei den Reunions des Abends. Manche hielten ihn für einen Dämon, andere für einen Engel. Zwanzig Damen fanden, es sei unerhört, wie frei zwanzig andere sich im Verkehr mit ihm benahmen, und ein Dutzend weitere erklärten jene ersten für heimtückisch kokett und berechnend dem Doktor gegenüber. Die junge Frau eines Bankiers wollte sich um seinetwillen scheiden lassen, aber es war ja nicht daran zu denken, dass er die heiraten würde, er wusste doch am besten, wie krank die war.
Ein höchst aufregender Augenblick entstand, sobald er abends in den Kursaal trat und man nicht wusste, zu welcher Gruppe er sich gesellen würde. Es mochte ja töricht sein – lächerlich – aber es blieb nun einmal ein Ehrenpunkt, den Doktor an seinem Tisch zu haben. In dieser engen Gemeinschaft, wo das Interesse sich auf so wenige Punkte konzentrierte, unter dem Einfluss der aufregenden Bäder, der scharfen Höhenluft bekam jede Stimmung, jedes Gefühl, jeder Einfall in den Seelen, deren Gleichgewicht schon krankhaft gestört war, eine unnatürlich gesteigerte Bedeutung und wirkte mit gefährlicher Ansteckungskraft. Sie erwarteten alle so viel von diesem Doktor, Gesundheit, Frohsinn, Mut und Lebenshoffnung sollte er jeder einzelnen zurückgeben. Da musste man ihm doch ein wenig den Hof machen.
»Dieser Doktor ist mir widerwärtig«, erklärte Agathe schon nach der ersten Sprechstunde. Wie eine Sensitive erzitterte sie unter seinen scharfen Augen.
Eugenie fand ihn amüsant. »Ein bisschen rücksichtslos und frech – aber – na – sonst kommt er wohl hier nicht durch.«
Wie sie beobachtet wurden, als er sich abends zu ihnen setzte. Lisbeth Wendhagen kam auch gleich vom anderen Ende des Saales hergelaufen. Natürlich kokettierte Eugenie mit ihm – es war ja hier Mode, und sie war zu jeder neuen Mode Bereit. Pfui – pfui – ekelhaft.
So einen cynischen Zug hatte dieser Doktor Ellrich am Mundwinkel. Der durchschaute die Frauen ganz und gar – er verachtete sie … Die frivolen Witze und Andeutungen, die er mit Eugenie über die anderen Patientinnen tauschte! Wahrscheinlich hinter dem Rücken auch über sie. Vor dem musste man sich in acht nehmen – der meinte es nicht gut – – Nur fort – fort von hier … Ein Ort, ein dunkler, stiller Winkel, dahin die Stimmen sie nicht verfolgten, – dahin keine Farbe, kein Licht und kein Klang dringen konnte. Dort sich verbergen und schlafen – schlafen – traumlos schlafen …
*
Seit Eugenie sie überwachte, durfte sie die Nächte nicht mehr auf einem Stuhl zusammengekauert sitzen und ins Dunkle starren. Aber sie schlief doch nicht. Immerfort musste sie grübeln, wie sie Eugenie und dem Doktor und all den vielen Frauen, die sie neugierig beobachteten, entfliehen konnte.
Dabei dies Tönen und Dröhnen – als würde eine große Kirchenglocke unablässig in ihrem Kopfe geschwungen.
Das störte sie ja im Denken – sie kam und kam nicht ins Klare. Und es musste doch etwas geschehen – sehr schnell …
Ehe Martin abreiste, hatte er zu ihr gesagt: