Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter

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Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter Gesammelte Werke bei Null Papier

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      Aber trotz­dem stand sie auf und nahm ih­ren Shawl von dem Ha­ken an der Wand.

      »Wo ge­hen Sie hin, Fräu­lein Aga­the?« frag­te die Rä­tin.

      »Ich will mit mei­nem Vet­ter ein Stück spa­zie­ren ge­hen.«

      »Jetzt?« frag­te die Rä­tin er­staunt. »Aber Sie wa­ren ja heu­te schon auf dem Hörn­li! Und es ist schon ganz dun­kel!«

      »Was scha­det das?«

      »Es ist schon neun Uhr vor­über!«

      »In ei­ner hal­b­en Stun­de brin­ge ich mei­ne Cou­si­ne un­ver­sehrt zu­rück«, sag­te Mar­tin in ei­nem gleich­gül­ti­gen, höh­ni­schen Ton.

      Er ging vor­an, es Aga­the über­las­send, ihm zu fol­gen. Er wuss­te ja, dass sie ihm fol­gen wür­de. Sie tat es, ob­wohl es ihr schi­en, als han­de­le sie voll­stän­dig wie eine, die ih­rer ge­sun­den Sin­ne nicht mehr mäch­tig ist.

      Was die Rä­tin und ihre Toch­ter und die Wir­tin und die Kell­ner von ihr den­ken muss­ten, wenn sie mit ei­nem jun­gen Mann in die Nacht hin­aus­ging, das war ja klar.

      Es war auch zu selt­sam, dass die Ge­richts­rä­tin kein Wort wei­ter äu­ßer­te. Wahr­schein­lich war sie zu er­starrt über das un­er­hör­te Vor­ha­ben ei­nes jun­gen Mäd­chens.

      Wa­rum ging sie nur und trot­te­te mit ge­senk­tem Kopf und ei­nem un­er­träg­li­chen Zit­tern in den Kni­en hin­ter Mar­tin her, der sich nicht ein­mal nach ihr um­wand­te? Es war ihm je­den­falls gleich­gül­tig, ob sie auf dem stei­ni­gen Wege Scha­den nahm.

      Ih­nen zur Sei­te braus­te in tie­fem Bett der Ge­birgs­bach, von den Ge­wit­ter­güs­sen der letz­ten Wo­chen an­ge­schwol­len, große Äste und los­ge­ris­se­ne Sträu­cher in sei­nen to­ben­den Stru­deln mit sich rei­ßend. Wol­ken­mas­sen stan­den schon wie­der am Him­mel. Es war so fins­ter, dass man un­ter den Bäu­men, die ihre Zwei­ge über den Weg bo­gen, nicht einen Schritt weit se­hen konn­te.

      Be­täubt von dem wil­den To­ben des Was­sers, das aus der Dun­kel­heit kal­te Düns­te in die schwü­le Nacht em­por­sand­te, mit boh­ren­den Schmer­zen im Kopf und über den Au­gen – mit Aufruhr und Elend in der Brust, setz­te sie ih­ren Weg fort.

      Wa­rum war sie ihm ge­folgt? Wa­rum nur?

      Sie hät­te sich von rück­wärts auf ihn wer­fen mö­gen, auf den dunklen Um­riss sei­ner Ge­stalt, und ihn pa­cken und hin­ein­zer­ren in das wil­de Was­ser, von dem er vor ein paar Ta­gen sag­te: »Wer da hin­ein­springt, den hole ich nicht wie­der!«

      Und sie lä­chel­te mit ei­ner grau­sa­men Lust an der Vor­stel­lung, dass er sei­ne Arme so her­aus­stre­cken wür­de, wie die dür­ren Äste aus den Stru­deln rag­ten … Da­bei fühl­te sie, dass es schon kein Lä­cheln mehr war, son­dern eine Gri­mas­se, die ihre Züge ver­zerr­te. Wie ent­setzt er sein wür­de, wenn er sich jetzt um­blick­te und das Wet­ter­leuch­ten ihm ihr Ge­sicht zeig­te …

      Aber er blick­te nicht zu­rück.

      Ein­mal sag­te er: »Hal­t’ Dich rechts, sonst fällst Du in den Bach.«

      Pfui, wie herz­los, wie grau­sam er war. Wie sie ihn ver­ab­scheu­te!

      Sie hat­ten nicht sehr weit zu ge­hen, bis sie an eine Brücke ka­men, die ohne Ge­län­der über den Bach führ­te. Mar­tin über­schritt sie und trat in den Hof ei­ner länd­li­chen Wirt­schaft, die von Frem­den nie­mals be­sucht wur­de, für die er al­lein eine Vor­lie­be be­saß. An ei­nem großen Baum hat­te man eine Stall­la­ter­ne be­fes­tigt. Sie warf einen kar­gen Licht­kreis auf den Tisch und die zwei Bän­ke. Über ihr glänz­ten die Blät­ter in ei­nem har­ten, me­tal­li­schen Grün, rings­um­her war Dun­kel­heit. Das lau­te Lär­men des Was­sers trenn­te den Ort von der üb­ri­gen Welt und er­reg­te den Ein­druck, als be­fän­de man sich auf ei­ner In­sel mit­ten in ei­ner wil­den, brau­sen­den Flut.

      »Hier sind wir un­ge­stört«, sag­te Mar­tin.

      Der Wirt er­schi­en in Pan­tof­feln, ver­schla­fen, und stell­te zwei Glä­ser Bier vor sie hin.

      »Geh’n Sie nur. Wir ru­fen schon, wenn wir et­was brau­chen.«

      Aga­the hat­te sich nie­der­ge­setzt. Sie stütz­te den Kopf in die Hand und starr­te vor sich auf das graue Holz des Ti­sches. Schwei­gend nahm sie Mar­tins Vor­wür­fe hin.

      Für so klein und sen­ti­men­tal und wei­bisch ei­tel, wie sie sich heut ge­zeigt, habe er sie nicht ge­hal­ten. Er woll­te sie für die Frei­heit ge­win­nen. Aber er wer­de sich nicht un­ter die Ty­ran­nei ei­nes prü­den und tö­rich­ten Frau­en­zim­mers beu­gen.

      Was habe sein Ge­fal­len an dem hüb­schen, fri­schen Schwei­zer­mäd­chen mit ih­rer Freund­schaft zu tun? Wenn sie sich ein­bil­de, dass er in Zu­kunft auf den Ver­kehr mit hüb­schen jun­gen Mäd­chen ver­zich­ten sol­le, dann habe sie das Ge­fühl, das ihn zu ihr ge­zo­gen, gründ­lich miss­ver­stan­den, dar­über müss­ten sie sich erst aus­ein­an­der­set­zen.

      Er wur­de end­lich von Aga­thes Schluch­zen un­ter­bro­chen.

      »Höre auf zu wei­nen, Du be­trägst Dich sehr kin­disch«, sag­te er hart.

      Es war fast nicht mehr wei­nen zu nen­nen, lang­ge­zo­ge­ne, rö­cheln­de Schreie dran­gen aus ih­rer Brust und ver­lo­ren sich im Brau­sen des Was­sers.

      Sie sprang auf, warf den Kopf zu­rück und rang wild die Hän­de, wie in Er­sti­ckungs­not und To­des­kampf.

      Mar­tin be­gann sich um sie zu ängs­ti­gen.

      »Also ge­hen wir nach Haus! Vi­el­leicht kann man mor­gen ver­nünf­tig mit Dir re­den. Wa­rum in al­ler Welt bist Du nur so au­ßer Dir?«

      »Weil ich Dich lie­be!« schrie sie ihn gel­lend an. Sie wuss­te ihm in dem Au­gen­blick kei­ne grö­ße­re Be­lei­di­gung ent­ge­gen­zu­schleu­dern. Und fort war sie – wie der Blitz hin­aus­ge­schos­sen in Nacht und Dun­kel­heit.

      Über die Brücke jag­te sie, dem Lauf des Ba­ches fol­gend –

      »Zum See – zum See …« Das war der ein­zi­ge Ge­dan­ke, der in ihr tob­te, in ih­ren Pul­sen häm­mer­te, in ih­rem Atem keuch­te.

      »Ich will frei sein – frei sein! Von ihm – von ihm –«

      Ein lau­tes Auf­la­chen …

      Zit­ternd blieb sie ste­hen und lausch­te … War sie es selbst ge­we­sen?

      Sie wag­te sich kei­nen Schritt wei­ter in der fürch­ter­li­chen, ein­sa­men Fins­ter­nis. War je­mand hin­ter ihr? Die Zäh­ne schlu­gen ihr klir­rend auf­ein­an­der vor Ent­set­zen.

      Sie

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