Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
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Ein Wetterstrahl fuhr blendend nieder. Sie riss die Augen auf, sah die durcheinandertobenden Strudel unter sich von fahlem Licht erhellt und fuhr zurück. Schreckendurchschüttelt stand sie atemlos, starrte in die Nacht und hörte das Sprachen des Donners.
Sie durfte ja nicht – sie durfte ja nicht … für Papa sorgen – sie hatte es doch versprochen … Sie durfte nicht entfliehen. Mama hatte sie gerufen …
Ihre Knie schwankten, sie fühlte, dass sie umfallen musste und ließ sich haltlos zu Boden sinken. So lag sie zusammengekauert und ließ sich vom Brausen des Wassers betäuben. Allerlei sinnloses Zeug ging ihr durch den Kopf – sie wusste nicht wie lange.
Endlich erhob sie sich und schlich durch die Nacht zurück. Jetzt hatte sie Angst, sich zu verirren, und besann sich mit Anstrengung auf die Richtung, die sie einzuschlagen hatte. Und dann lief sie, so schnell sie konnte.
Schaudernd vor innerer Kälte, das Gesicht von Schweiß und Tränen bedeckt, stand sie vor der Tür des Hotels still.
Leise öffnete sie und floh durch den Hausflur die Treppe hinauf.
Da auf dem ersten Treppenabsatz traf sie Martin.
»Agathe, wie konntest Du!« rief er ihr entgegen. »Seit einer Stunde laufe ich in der Dunkelheit herum und suche Dich! Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt!«
Sie schleppte sich abgewendet an ihm vorüber und riegelte sich in ihrem Zimmer ein.
So hatte Agathes Ausflug in die Freiheit ein Ende genommen.
XV.
Frau Lieutenant Heidling wurde durch ein Telegramm ihres Schwiegervaters nach der Schweiz berufen. Der Regierungsrat empfing sie unten am See bei der Dampferstation.
»Mein Gott, Papa – was ist denn geschehn?«
»Ja – die arme Agathe …« Der alte Herr blickte seine Schwiegertochter verstört und bekümmert an. »Kannst Du Dir das vorstellen – den ganzen Tag sitzt sie und weint – aber den ganzen Tag! Und will man sie beruhigen, dann gerät sie in eine Heftigkeit – ich habe gar nicht geglaubt, dass sie so zornig werden könnte. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich das Mädchen behandeln soll. Ich. bin ganz am Ende mit meiner Klugheit … Mit Martin, für den sie doch eine entschiedene Vorliebe zeigte, hat sie sich auch überworfen – jedenfalls – denn er ist plötzlich abgereist.«
Der Regierungsrat ergriff Eugenies Hände, die Tränen liefen ihm in den Bart.
»Sei mir nicht böse … die weite Reise … Ich dachte, wenn Du – Ihr seid doch immer so gute Freundinnen gewesen. Wenn Du mal mit ihr sprächest! Es muss etwas … Du hast ja keine Ahnung, wie das arme Kind aussieht.«
»Na ja, Papachen, das wollen wir schon machen. In der Familie bringt man ja gern Opfer. Das überlass mir nur alles. Ich will Agathe schon wieder zur Raison bringen.«
Als Agathe ihre Schwägerin erblickte, verfiel sie in einen Weinkrampf.
Der Regierungsrat lief nach einem Doktor. Und der Doktor erklärte: die Patientin wäre sehr nervös und auch sehr bleichsüchtig. Die Bleichsucht käme von der Nervenüberreizung, und die Nervenüberreizung habe ihren Grund in der Blutarmut. Es müsse etwas für die Nerven geschehen und etwas für die Bleichsucht – übrigens würde ein bisschen Stahl die Sache schon wieder in Ordnung bringen.
»Weißt Du, Papa«, sagte Eugenie, »ich soll auch ein bisschen Stahl trinken – da nehme ich Agathe mit nach Röhren – das wird jetzt so sehr gerühmt. Lisbeth Wendhagen ist auch dort – es soll von einem vorzüglichen Arzt geleitet werden. Dann lasse ich Wölfchen hinkommen, der Junge sieht nach dem Scharlach immer noch so mieserig aus. Und wir amüsieren uns himmlisch miteinander! – Gott – der Mensch hat immer mal so Zeiten, wo ihm alles nicht recht ist, und Agathe hat sich wirklich sehr angestrengt. Überlasse sie mir nur ganz unbesorgt.«
Der Regierungsrat küsste Eugenien in warmer Dankbarkeit die Hand. Wie klug und praktisch sie war. Er sah schon nicht mehr so schwarz … es würde ja alles wieder werden!
»Ich will nicht mit Eugenie! Ich will nicht! Lass mich hier allein, Papa – ganz mutterseelenallein«, flehte Agathe ihren Vater an. »Du sollst sehn, dann werde ich vernünftig! Ich habe nur eine solche Sehnsucht, einmal ganz allein zu sein – gar nicht sprechen zu brauchen – und gar keine Stimmen zu hören. Ich kann Eure Stimmen nicht mehr vertragen – das ist die ganze Geschichte. Ich will nicht zu einem Doktor.«
Eugenie und Papa blickten sich bedeutungsvoll an. Der Regierungsrat seufzte tief.
»Kranke haben keinen Willen«, sagte Eugenie energisch und packte die Koffer.
Agathe sah die junge Frau in ihren Sachen herumwühlen, ihre Schachteln öffnen, in ihrer Briefmappe blättern, als sei sie schon eine Gestorbene, auf die man keine Rücksicht mehr zu nehmen braucht.
Und dann doch wieder das beständige Geplauder, um sie aufzuheitern – zu zerstreuen. Oder Eugenie suchte durch geschickte Fragen zu ergründen, ob etwas zwischen ihr und Martin vorgefallen sei.
… Vielleicht hatte sie schon hinter Agathes Rücken an Martin geschrieben, und er würde alles verraten … Und Eugenie erfuhr ihre Schmach – den heimlichen Jammer, der sie zu Grunde richtete …
Sie wollte ja leben, sie wollte ja ihre Pflicht tun – aber man musste sie nicht so furchtbar peinigen. Schon in gesunden Zeiten hatte Eugenies leichte, sichere, selbstgefällige Art sie maßlos irritiert – und nun sollte sie, totmüde und aufgerieben, wie sie war, wochenlang Tag und Nacht mit ihr zusammen sein? Sich von ihr beaufsichtigen und ausforschen lassen? Das war gar nicht auszudenken!
Und Papa nahm keine Vernunft an.
Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass sie Eugenie verabscheute? Wenn er fragen würde warum? Sie wusste ja keinen Grund dafür.
Aber sie hatte selbst Schuld – sie allein.
Sie wollte nun alles tragen, als eine Strafe von Gott, für das wahnsinnige Verlangen nach Glück.