Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter

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Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter Gesammelte Werke bei Null Papier

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muss­te ihm be­wei­sen, dass sie nicht so er­bärm­lich war, wie er glaub­te.

      Sich recht­fer­ti­gen … Das war nun nicht mehr mög­lich.

      Ihm hel­fen in stil­ler, har­ter Ar­beit … Ja­wohl! Er wür­de sie doch nur für zu­dring­lich hal­ten.

      Und bei die­sem ra­sen­den Ab­scheu, Ekel und Hass … Es konn­te wie­der über sie kom­men, so wie an dem Abend … Sie – sie – und noch et­was wol­len? Et­was, wozu Selbst­ver­trau­en und Kraft ge­hör­te … Sich ver­krie­chen, sich ver­ste­cken, wo kein Mensch sie sah und hör­te – wo sie kei­nen in ih­rer Nähe fühl­te – –

      *

      Nein – sie woll­te nichts mehr, als still bei Papa blei­ben – sie woll­te ge­wiss nicht wie­der an das alte ge­wohn­te Joch rüh­ren.

      Sie hat­te es nun ge­se­hen, dass sie in der rei­nen Luft der Hö­hen nicht at­men konn­te. Sie war nicht für die Ber­ges­gip­fel ge­schaf­fen – sie er­stick­te ein­fach dort.

      Frei­lich die Män­ner … die nah­men sich auch auf die Hö­hen mit hin­auf, was sie moch­ten, was ih­nen an­ge­nehm schi­en – nur sie – sie soll­te da in Eis und Schnee er­star­ren. Im Grun­de war es also gleich­gül­tig, ob sie un­ten saß oder mit Ge­fahr ih­res Le­bens an den Fel­sen­hän­gen der Wahr­heit und der Frei­heit hin­auf­zu­klim­men ver­such­te – für die Mäd­chen blieb sich die Sa­che ziem­lich gleich – Ent­sa­gung über­all. Da – da – da traf sie ihn wie­der – den großen Be­trug, den sie alle an ihr ver­übt hat­ten – Papa und Mama und die Ver­wand­ten und Freun­din­nen und die Leh­rer und Pre­di­ger … Lie­be, Lie­be, Lie­be soll­te ihr gan­zes Le­ben sein – nichts als Lie­be ih­res Da­seins Zweck und Ziel …

      … Das Weib, die Mut­ter künf­ti­ger Ge­schlech­ter … Die Wur­zel, die den Baum der Mensch­heit trägt …

      Ja – aber er­hebt ein Mäd­chen nur die Hand, will sie nur ein­mal trin­ken aus dem Be­cher, den man ihr von Kind­heit an fort­wäh­rend lo­ckend an die Lip­pen hält – zeigt sich auch nur, dass sie durs­tig ist … Schmach und Schan­de! Sün­de – scham­lo­se Sün­de – er­bärm­li­che Schwä­che – hys­te­ri­sche Ver­rückt­heit! schreit man ihr ent­ge­gen – bei den Stren­gen wie bei den Mil­den, den Al­ten und den Jun­gen, den From­men und den Frei­en.

      *

      Sie hat­te ge­zeigt, dass sie durs­tig war, und sich da­mit des ein­zi­gen Men­schen be­raubt, der sie hät­te ret­ten kön­nen.

      Und sie sehn­te sich so sehr nach ihm.

      Sie woll­te doch zu ihm flüch­ten. Bei ihm wird sie ge­sund … Sie wuss­te, wo Eu­ge­nie das Rei­se­geld auf­be­wahrt … Nicht ein­mal das ver­trau­te Papa ihr noch an …

      Sie be­gann wie­der zu wei­nen.

      Mei­net­we­gen moch­te er sie ver­ach­ten … Ganz de­mü­tig will sie ihn bit­ten: Lie­ber, lie­ber Mani – be­hal­te mich nur bei Dir, schüt­ze mich nur … ge­gen die an­de­ren …

      Be­son­ders ge­gen Eu­ge­nie! Wie sie sie hass­te – die mit so ei­ner kal­ten Ge­walt al­les an sich zog … Die gan­ze Welt be­herrsch­te sie!

      Der Dok­tor hat­te sich auch schon in sie ver­liebt. Da ma­chen sie na­tür­lich ge­mein­sa­me Sa­che ge­gen sie – und ver­ra­ten Papa al­les, al­les – die schlech­ten Men­schen …

      Ach – die Angst – die Angst!

      Aga­the läuft in ih­rem Zim­mer her­um – im­mer hin und her – hin und her. Sie ist al­lein.

      Eu­ge­nie hat für eine Stun­de von ihr Ab­schied ge­nom­men, sie soll sich aufs Bett le­gen und ru­hen un­ter­des­sen. Eu­ge­nie fährt mit dem Dok­tor spa­zie­ren in sei­nem of­fe­nen Wa­gen, den er selbst kut­schiert. Wie sie da oben thron­te – den schel­misch-lau­ern­den Zug um den Mund, das schwar­ze Hüt­chen auf dem blon­den Haar – aus al­len Fens­tern blick­te man ihr nach. Mit ihm fah­ren war die höchs­te Ehre, die der Dok­tor zu ver­ge­ben hat­te. Auf die Stra­ße ka­men die Da­men ge­lau­fen und mach­ten nei­di­sche Glos­sen. Aber Frau Eu­ge­nie ver­gibt sich nichts. Zwi­schen ihr und dem Dok­tor sitzt Wölf­chen in sei­ner stram­men, mi­li­tä­ri­schen Hal­tung mit der klei­nen Sol­da­ten­müt­ze.

      Und tri­um­phie­rend hat­te sie rings um­her ge­grüßt und ge­winkt, wäh­rend der Dok­tor an den Zü­geln zog und die Pfer­de lus­tig aus­grei­fen ließ.

      Die Heuch­le­rin … die Heuch­le­rin Aga­the lach­te in der Ein­sam­keit, ball­te die Hän­de und schüt­tel­te sie dro­hend.

      Mich hat man nicht mit­ge­nom­men, vor mir fürch­ten sie sich wohl – aber der klei­ne Jun­ge, was küm­mern sie sich um den?

      Wenn sie drau­ßen sind, wo kei­ner sie mehr sieht, da küs­sen sie sich – der Dok­tor und – Eu­ge­nie ha ha ha – und Wal­ter küsst sie auch und Wölf­chen – alle küs­sen sich. Mar­tin und die Kell­ne­rin und der Com­mis – alle, alle … pfui! Wa­rum kom­men sie zu ihr ins Zim­mer – das ist so bos­haft.

      Sie hält sich die Au­gen zu. Sie darf das nicht se­hen. Sie ist doch ein an­stän­di­ges Mäd­chen.

      Nein – nein – nicht mit Fin­gern auf mich zei­gen! Habt doch Er­bar­men. Schont doch we­nigs­tens mei­nen lie­ben Papa …

      Als Eu­ge­nie heim­kam, sah sie die Ja­lou­si­en bei ih­rer Schwä­ge­rin noch ge­schlos­sen. Aus der fri­schen, hel­len Herbst­luft trat sie fröh­lich er­regt in das halb­dunkle Zim­mer.

      »– Mäd­chen – was ist Dir?«

      In der Ecke zwi­schen der Wand und dem Ofen stand ein ge­stick­ter Lehn­stuhl. Hier kau­er­te Aga­the, die Knie hoch­ge­zo­gen, die spit­zen Schul­tern vor­ge­streckt, die Ell­bo­gen an sich ge­presst – das gel­be, hohl­äu­gi­ge Ge­sicht mit ei­nem un­be­greif­li­chen Aus­druck von Ent­set­zen vor sich ins Lee­re star­rend.

      »Mein Him­mel – fehlt Dir et­was?«

      Eu­ge­nie er­griff sie am Arm und schüt­tel­te sie.

      »Du siehst ja aus, dass man sich fürch­ten könn­te.«

      Aga­the starr­te ihr schwei­gend, dro­hend in die Au­gen.

      »Höre, Du«, rief die jun­ge Frau Heid­ling, »ich schi­cke zum Dok­tor …«

      Ein gel­len­der Schrei – ein wil­der Lärm und der Ruf: Zu Hil­fe! Hil­fe …!

      Die Zim­mer­nach­barn, Kell­ner und Wir­tin stürz­ten in wir­rem Durchein­an­der her­bei.

      Aga­the hat­te ihre Schwä­ge­rin zu Bo­den ge­wor­fen, knie­te auf ihr und such­te sie zu wür­gen. Sie lach­te, sie schrie und stieß irre Wor­te

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