Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Und ich muss unbedingt zur Arbeit. Ich kann Tatjana unmöglich allein lassen.«
»Dann lass uns auf der Fahrt dorthin reden. Der Busfahrer und ich bringen dich hin«, machte Mario einen Vorschlag, und als Marianne nach kurzem Zögern zustimmte, wusste er, dass er gewonnen hatte.
Es war, als hätte ein Windstoß eine dunkle Wolke aus ihrem Gesicht fortgewischt. Plötzlich war die kritische Falte zwischen ihren Augen verschwunden und die Liebe blitzte verräterisch in ihrem Blick auf. In diesem Moment gab es kein Halten mehr. Mario schloss Marianne in seine Arme und küsste sie, als gäbe es kein Morgen mehr.
*
In der ehemaligen Bäckerei Bärwald hatte sich eine lange Schlange gebildet. Während sich Tatjana bemühte, alle Wünsche zu erfüllen, warteten die Kunden mehr oder weniger geduldig darauf, dass sie endlich an die Reihe kamen.
»Entschuldigung, haben Sie auch laktosefreies Gebäck?«, fragte eine Kundin, als sie vor der jungen Chefin stand.
Solche Fragen und Sonderwünsche waren im Normalfall kein Problem. Doch an diesem Tag war jedes Extra zu viel. Nur mit Mühe gelang es Tatjana, ein Seufzen zu unterdrücken. Dabei ließ sie ihren nachdenklichen Blick über die Auswahl in der antiken Vitrine wandern.
»Die Blätterteig-Kirsch-Taschen können Sie problemlos essen. Und der Birnen-Streusel-Kuchen kommt auch ganz ohne Milchprodukte aus. Außerdem…«
»He da, geht das nicht ein bisschen schneller? Meine Mittagspause ist gleich vorbei«, fiel ihr einer der Wartenden ins Wort.
»Bis wir endlich dran sind, können wir wahrscheinlich eh gleich in den Feierabend gehen!«, mutmaßte ein anderer, und ein paar der Kunden brachen in Gelächter aus.
»Ich finde das gar nicht lustig. Früher war der Service hier besser«, stimmte eine Kundin nicht in die allgemeine Heiterkeit ein. »Wenn das so weitergeht, suche ich mir eine andere Bäckerei. Was hab ich von der Renovierung, wenn ich keine Ware mehr bekomme?« Als sie von allen Seiten lautstarke Zustimmung erntete, lächelte sie Tatjana selbstgefällig an.
Genau solche Worte waren es, vor denen sich die aufstrebende Bäckerin so sehr fürchtete. Sie hatte so hart für ihren Erfolg gearbeitet, sehr viel Geld und Arbeit investiert, ihre Ausbildung zur Bäckerin und Konditorin abgeschlossen, um das Geschäft selbst führen zu können und zuletzt den großen Umbau gewagt. Die positive Besprechung in der Zeitschrift war eine wundervolle Bestätigung dafür gewesen, dass sich all ihre Mühen gelohnt hatten. Wenn sie aber die hohen Erwartungen nicht erfüllen konnte, dann wäre alles umsonst gewesen.
»Hallo, hören Sie schlecht, junge Frau?«, riss sie eine ungeduldige Stimme aus ihren Gedanken.
Erschrocken zuckte Tatjana zusammen.
»Es tut mir leid. Was kann ich Ihnen einpacken?«, fragte sie, als sie zu ihrem großen Schrecken und trotz ihrer Sehbehinderung auch noch einen blau gefärbten Haarschopf entdeckte, der in der Bäckerei auftauchte.
Wie um sich hinter dem Tresen zu verstecken, senkte Tatjana den Kopf. Mechanisch füllte sie Tüte um Tüte, kassierte, gab Wechselgeld heraus und fragte den nächsten Kunden nach seinen Wünschen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, so wenig wollte der Strom abreißen. Dabei warteten in der Backstube schon die nächsten Bleche, die aus dem Ofen geholt werden und andere, die hineingeschoben werden wollten.
»Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, bat Tatjana hektisch, als sie das schrille Klingeln in ihrem Rücken hörte.
»Moment mal, Sie können mich doch jetzt nicht einfach so stehen lassen«, beschwerte sich der Mann, der als nächster an der Reihe war.
»Wenn Ihr Nachbar hier gern verbrannte Brötchen haben will, bitte sehr«, gab Tatjana schnippisch zurück und eilte in die Backstube, um die Brezen aus dem Ofen zu retten.
Als sie mit erhitzten Wangen und einem schweren Korb voll mit verschiedenstem Gebäck zurückkehrte, war der Kunde verschwunden. Dafür stand die junge Frau mit den blaugefärbten Haaren grinsend vor dem Tresen.
»Was willst du denn schon wieder hier?«, stöhnte Tatjana und machte Anstalten, den Korb ins Regal hinter sich zu hieven.
»Och, ich seh mich nur mal um…«, erwiderte Marla und sah Tatjana genau wie die anderen Kunden dabei zu, wie sie sich mit dem Korb abmühte.
Erst als er gefährlich in Schieflage kam und ihr um ein Haar aus der Hand gerutscht wäre, eilte Marla der überforderten Bäckerin zu Hilfe.
»Sieht ganz danach aus, als ob Sie mich doch brauchen können«, stellte sie zufrieden grinsend fest, als der Korb endlich sicher an Ort und Stelle stand.
»Das war eine Notsituation«, presste Tatjana durch die Lippen. »Aber danke für die Hilfe.« Damit wollte sie sich an die nächste Kundin wenden, die schon ungeduldig von einem Bein auf das andere trat.
Doch Marla wollte nicht locker lassen.
»Ich mach Ihnen ein Angebot. Ich helfe Ihnen jetzt aus der Patsche«, mit dem Kopf nickte sie in Richtung der langen Schlange vor der Vitrine, »dafür bekomme ich den Job als Bäckerin.«
So viel Dreistigkeit verschlug Tatjana die Sprache.
»Wie bitte?«, schnappte sie überrascht nach Luft.
Marla lachte belustigt und eine Spur siegessicher auf.
»Sie haben schon richtig gehört. Ich hab Ihnen ein Angebot gemacht.«
»Das klingt eher nach Erpressung!«, stellte die Bäckerin unwillig fest und Marla bemerkte, dass sie ihre Strategie ändern musste, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte.
Sie setzte ein Kleinmädchengesicht auf und ihr Mund verzog sich zu einer Schnute.
»Ich will doch nur eine Chance haben. Mehr nicht.«
In diesem Augenblick hatten die Kunden hinter Marla genug von der Diskussion.
»Also entweder geben Sie dem Gör die Stelle oder wir gehen auf den Schlag und kommen nie mehr wieder«, erhob sich einer der Wartenden zum Sprecher der ganzen Gruppe.
Empört starrte Tatjana über die Vitrine. Sie war feinfühlig genug, um die widersprüchlichen Emotionen aufzufangen, die ihr von ihren Kunden entgegen schlug.
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich derart unter Druck setzen lasse«, schimpfte sie aufgebracht. »Außerdem kommt sowieso gleich meine Mitarbeiterin Marian…«
Sie hielt inne und lauschte. Tatsächlich klingelte in diesem Moment das Telefon, das im Durchgang zur Backstube an der Wand hing. Am liebsten wäre Tatjana in diesem Augenblick in Tränen ausgebrochen. Doch es sah ihr nicht ähnlich, sich eine Blöße zu geben. So wandte sie sich schnell ab, um das Telefonat zu führen. Es dauerte nicht lange und wenn möglich, war ihr Gesicht noch hoffnungsloser, als sie mit einer Schürze in der Hand zurückkam.
»Das war Marianne. Sie kommt heute nicht mehr«, teilte sie Marla mit Grabesstimme mit und warf ihr die Schürze zu. »Dann zeig mal, was du kannst!«, forderte sie das Mädchen mit den blauen Haaren und dem Piercing im Nasenflügel auf.
Marlas