Mein Herz ist aus Stein. Michaela Lindinger

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Mein Herz ist aus Stein - Michaela Lindinger

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des Christentums. Leute mit Hautzeichen wurden zu »Heiden« erklärt und verfolgt. Nun, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man bereits von einer regelrechten Tätowierungswut sprach, ging es vor allem um modernitätskritische Referenzen in Anlehnung an imaginierte exotisch-archaische Sehnsüchte nach einer einfacheren, freieren Welt. Diesem Trend folgten etwa der deutsche Kaiser Wilhelm II., Sisis Sohn Rudolf oder der »schöne Erzherzog« Otto, Bruder des heute aufgrund der Ereignisse in Sarajevo 1914 wesentlich bekannteren Franz Ferdinand. Aber auch weibliche Angehörige europäischer Fürstenhäuser ließen sich tätowieren, nicht allerdings im selben Ausmaß wie Männer. Die bürgerliche Mittelschicht verschmähte den Körperschmuck (noch), zahlte jedoch viel Geld, um in Vergnügungsetablissements wie beispielsweise dem Wiener Prater ganzkörpertätowierte Schaustellerinnen zu begaffen. Auch in den Bordellen musste man, vergleichbar mit der obligaten Schwarzen oder »Orientalin«, für das Vergnügen mit einer tätowierten Frau tiefer in die Tasche greifen.

      Adolf Loos, wie immer »anti-ornamental« unterwegs, hielt nichts von der neumodischen Zeiterscheinung:

      es gibt gefängnisse, in denen achtzig prozent der häftlinge tätowierungen aufweisen. die tätowierten, die nicht in haft sind, sind latente verbrecher oder degenerierte aristokraten. wenn ein tätowierter in freiheit stirbt, so ist er eben einige jahre, bevor er einen mord verübt hat, gestorben.

      Als Elisabeth den Anker ihrem Ehemann vorführte, dürfte dieser recht sprachlos gewesen sein. Er fragte Valerie, ob sie auch schon über die »furchtbare Überraschung, dass sich nämlich Mama einen Anker auf der Schulter einbrennen liess«, geweint habe. Sisi selbst brachte das neue Tattoo mit der bevorstehenden Verlobung und Hochzeit der Tochter in Zusammenhang. Ein Zeichen dafür, dass es nun endgültig nichts mehr gab, was sie an den Hof zurückbringen könnte. Ein Symbol für die letzte Reise, den Tod.

      Der Anker ist auf vielen Friedhöfen in Mitteleuropa als Grabgestaltung präsent. Vor allem Gräber aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den Jahren um 1900 zeigen den Anker in verschiedensten Ausführungen. Beim Trauerschmuck der viktorianischen Epoche ist das nautische Emblem ebenfalls häufig anzutreffen.

      Ein Anker-Tattoo kann auch heute nicht schaden. Hundert Jahre nach der großen Tattoo-Welle im 19. Jahrhundert setzte in den 1980er-Jahren eine Renaissance des Tätowierens ein. Angehörige der gesellschaftlichen Mittelschicht tragen bisweilen Tattoos unter Anzug oder Kostüm. Weithin sichtbare Tätowierungen sind meistens jenen vorbehalten, die sich, in welcher Form auch immer, gegen den Mainstream abgrenzen wollen. Moderne Grenzgänger unterschiedlichster Metiers warten mit einem Anker auf, zum Beispiel das englische Topmodel Kate Moss, der Sänger der finnischen Black-Metal-Band Horna, Shatraug, oder die amerikanische Musikerin und Stil-Ikone Beth Ditto.

      Und der heutige Hochadel? Verhält sich tattootechnisch äußerst zurückhaltend. Adolf Loos wäre zufrieden.

       4 Trauertaschentuch mit Trauerkette, um 1890/1900. Der Anhänger zeigt zwei Todessymbole: Kreuz und Anker.

      II »Schutzgott Hermes«

      Bald aber naht ein Bote,

      Hermes nennen sie ihn,

      Mit seinem Stab regiert er die Seelen:

      Wie leichte Vögel,

      wie welke Blätter treibt er sie hin.

      Du schöner, stiller Gott!

       Hugo von Hofmannsthal/Richard Strauss:

       Ariadne auf Naxos, 1912

      Highway to Hades

      Junge Leute des 21. Jahrhunderts assoziieren »Hermes« in erster Linie mit einem Postdienst, der das Neueste aus dem Internet ins Haus liefert. Im Prinzip ist der Firmenname sinnvoll gewählt, denn Hermes fungierte in der antiken griechischen Mythologie als Bote und (Ver-)Mittler. Der Sohn des Zeus und der Plejade Maia war einer der jüngsten der olympischen Götter. Er galt als schnell, listig und gewandt, ein Patron und Beschützer der Reisenden, Hirten und Diebe, Redner und Dichter, Athleten und Sportler, Erfinder und Kaufleute. Zu seinen Attributen gehörten der geflügelte Helm und ebensolche Sandalen sowie das Kerykeion, der Heroldsstab, abgeleitet vom griechischen Begriff »keryx«, der Herold. Zwei Schlangen winden sich um den obersten Teil des Stabes, sie blicken einander an und stehen für die Verbindung gegensätzlicher Kräfte. Auch die griechische Götterbotin Iris und die römische Göttin des Glücks Felicitas tragen das Kerykeion. Im Altertum war dieses Symbol das Erkennungszeichen der Boten. Es sollte die Immunität dieser Überbringer militärischer Befehle oder geheimer Nachrichten signalisieren und ihre schadlose Rückkehr garantieren. Später wandelte sich das Zeichen in den Merkurstab, ein Symbol des Handels.

      Eine besondere, heute weniger bekannte Zuständigkeit des Hermes (römisch: Merkur) war in der Vorstellung der Gläubigen des Altertums jedoch seine wichtigste: Hermes führte den Beinamen »Psychopompos«, der Seelenführer. Auf die Verbindung gegensätzlicher Kräfte wurde bereits hingewiesen: Als göttlicher Grenzüberschreiter geleitet Hermes die Seelen der Verstorbenen an die Gestade der Flüsse Acheron (»der Kummervolle«), Styx (»der Verabscheuungswürdige«) und Lethe (»das Vergessen«) und somit zu Charon, dem Fährmann des Totenreichs. Hermes kontrolliert den »Verkehr« zwischen »Oben« und »Unten« und sorgt dafür, dass die Trennung zwischen den Welten aufrecht und die göttliche Ordnung somit gewahrt bleibt. Abgesehen von den definitiven Beherrschern des Jenseits, Hades und seiner geraubten Gemahlin Persephone, ist Hermes der Einzige, der die Unterwelt problemlos betreten und – nicht ganz unwichtig – wieder verlassen kann.

      Die Vorstellung des Totenführers korrespondiert mit den Walküren, die die gefallenen Krieger heim nach Walhalla holen, oder dem Engel Azrael, der von Allah eine Liste mit den todgeweihten Menschen erhält und in den darauffolgenden 40 Tagen diese Aufgabe abarbeitet. Interessant ist auch der Riese Christophorus, der in frühchristlicher Zeit die Toten zur Himmelspforte begleitete und – wie sein altägyptisches Pendant und direkter Vorgänger, der Schakalgott Anubis – hundsköpfig dargestellt wurde.

      Allgemein ist der »Seelenführer« eine mögliche Form der Personifikation des Todes. Abgesehen von Gottheiten oder Engeln können auch Geister oder Dämonen diese Aufgabe übernehmen. Neben dem Transport der Seele liegt die Bedeutung des Psychopompos darin, die Sterblichkeit zu akzeptieren. Altgriechische Vasenbilder oder Grabstelen zeigen auffallend oft Frauen, die von Hermes in die Unterwelt begleitet werden – eine Tatsache, die eventuell auch Elisabeths Interesse an dieser griechischen Gottheit gefördert haben mag.

       5 Psychopompos Hermes wacht über Elisabeths Alterssitz im Lainzer Tiergarten.

      An der Gartenfront der Hermesvilla begrüßte also gewissermaßen der Tod in Gestalt eines jungen Gottes die Hausherrin Elisabeth, ihre Familie und geladene Gäste. Heute betreten die Besucher das Haus durch den ehemaligen Personaleingang und erfahren von dieser besonderen Eigenart der Villa bei Lainz nur noch im Rahmen einer Spezialführung. Wäre es nach dem Kaiser gegangen, sollte die Hermesvilla ja den wenig originellen Namen »Villa Waldruh« tragen.

      Am 1. Juli 1882 hatte Franz Joseph verfügt, in unmittelbarer Nähe der Stadt, aber doch schon in der stillen Abgeschiedenheit der Natur aus kaiserlichen Privatmitteln

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