Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa Simon
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»Ich heiße Lea«, erklärte das Kind, als könnte es Gedanken lesen. »Ich will angeln. Ich habe nämlich zum Geburtstag eine Angel geschenkt bekommen. Ich dachte, es ist ganz leicht, ich dachte, hier gibt es haufenweise Fische. Aber es beißt keiner an. Irgendwas muß ich falsch machen. Darum frage ich dich, ob du schon mal geangelt hast. Ich stelle es mir Spitze vor, wenn wir zum Mittagessen selbst gefangenen Fisch braten können.«
Er sah in das unglückliche Gesichtchen, das von großen braunen Augen beherrscht wurde. Etwas in diesem Gesicht rührte ihn an; was es war, hätte er nicht zu sagen gewußt.
»Hast du einen Köder an den Haken gemacht?«
»Eine Köder?« Der Mund blieb vor Erstaunen geöffnet. Ein Schneidezahn fehlte. »Was ist das denn?«
»Würmer. Würmer, die du hier suchen kannst. Wenn das Wasser zurückgeht, kannst du nach Wattwürmern graben. Du kannst natürlich auch Mehlwürmer in der Zoohandlung kaufen, ich weiß aber nicht, ob es so ein Geschäft hier im Dorf gibt.«
»Was meinst du mit Watt? Was meinst du damit, wenn das Wasser zurückgeht?«
»Hast du noch nie etwas von Ebbe und Flut gehört?«
Jo saß entspannt auf seinem Stein, für den Augenblick hatte er seinen Ärger vergessen. Die Kleine war zu drollig. Etwas rührend Schutzbedürftiges strahlte sie aus. Wie erwartungsvoll, ja gläubig ihn die braunen Augen ansahen.
»Nee. Doch, warte mal«, ein Finger wurde gegen die Stupsnase gedrückt, als ließe es sich so besser denken. »Irgendwer hat mal was davon erzählt. Aber ich hab’s vergessen. Erzähl du es mir.« Die Kleine lächelte ihn treuherzig an, ließ sich einfach auf den Sand fallen, hockte da im Schneidersitz und sah zu ihm auf. Nicht eine Spur Scheu oder Zurückhaltung legte die Kleine an den Tag, sie sprach mit ihm, als wären sie längst vertraut.
»Ebbe und Flut nennt man auch Gezeiten, oder Tiden«, erklärte er dem Kind und merkte gar nicht, daß er mit dem Mädchen sprach, als wäre es erwachsen. »Infolge der Anziehungskraft von Mond und Sonne, verursacht durch rhythmische Schwankungen des Meeresspiegels, der Atmosphäre und der festen Erdoberfläche mit einer Periode von 12 bis 13 Sonnenstunden. Die Gezeiten werden in den Pegeln beobachtet…«
»Ich verstehe nur Bahnhof«, unterbrach ihn Lea. Sie hatte die Kinderstirn gekraust und schüttelte ein über das andere Mal den Kopf. »Ich bin bestimmt nicht schwer von Begriff, aber das kapier ich nicht. Nicht mal die Hälfte.«
Er stutzte und lachte dann reuevoll.
»Du hast recht. Wie solltest du das auch verstehen? Du bist hier an der Nordssee, hier sind Ebbe und Flut sehr stark. Bei Ebbe geht das Wasser zurück, bei Flut kommt es. Es ist nie ratsam, bei Ebbe ins Wasser zu gehen«, glaubte er noch mahnend sagen zu müssen. »Und was haben der Mond und die Sonne damit zu tun? Das kapier ich nicht. Mond und Sonne sind doch am Himmel und das Meer ist auf der Erde.«
»Das eben ist die Anziehungskraft des Mondes. Bei der Bildung der Gezeiten überwiegt die Anziehungskraft des Mondes. Das ersieht man aus der regelmäßigen Wiederkehr der Gezeiten innerhalb von 24 Stunden und 50 Minuten. Der Einfluß der Sonne macht sich vorwiegend in dem Gezeitenhub bemerkbar.«
»Hör auf«, die Kleine hielt sich kopfschüttelnd die Ohren zu. »Ich kapiere es einfach nicht. Aber wenn du es sagst, wird es schon stimmen. Das beste ist, ich frag Susanne heute abend. Wenn Susanne was erklärt, kann es sogar unser Stöpsel verstehen, und der ist erst drei Jahre alt. Du machst ein Gesicht, als wenn du sauer bist. Das darfst du nicht. Vielleicht hast du keine Kinder, dann kannst du natürlich auch nicht so sprechen, daß man es kapiert. Wenn man nur mit Erwachsenen zusammen ist, spricht man ganz anders, das ist ja klar.«
Es war zu drollig, wie die Kleine versuchte, ihn zu trösten. »Wichtig ist ja eigentlich nur, daß das Wasser wiederkommt, wenn es wegläuft.«
Mit gekraustem Näschen starrte das Kind auf das Meer. Die Wellen hatten lustige kleine Schaumkrönchen, sie trugen ein Brett heran. Immer wenn Lea glaubte, jetzt würde es an den Strand gespült, nahmen sie es wieder mit sich.
»Die Wellen spielen mit dem Brett wie eine Katze mit einer Maus«, rief das Kind und schüttelte die blonden Haare, die naß und strähnig das Gesicht umtanzten. »Bei dem Wasser sieht das lustig aus, wenn eine Katze das macht, finde ich es grauselig.«
»Ich auch«, nickte der Mann und studierte das Kind, als wollte er es zeichnen. Bisher war er selten mit Kindern zusammen gekommen. Er fand sie laut und lästig, unberechenbar, und man ging ihnen besser aus dem Weg. Aber dieses Kind interessierte ihn einfach. Wahrscheinlich war es in einem kritischen Moment in sein Leben gehüpft.
»Jetzt ist also Flut, weil das Wasser kommt«, überlegte Lea und bohrte die nacken Zehen in den steinigen Sand. »Jetzt kann ich also keine Würmer finden. Da muß ich warten, bis Ebbe ist.«
»Du hast es ja doch verstanden«, freute Jo sich und lachte auf das Kind hinunter. Lea grinste, zog den Mund auseinander, daß er noch eine weitere Zahnlücke sehen konnte.
»Toll. Na, die werden gleich staunen, wenn ich den anderen einen Vortrag halte. Mensch, denen werden die Augen aus dem Kopf fallen.«
Jo kam sehr unsanft in die Wirklichkeit zurück.
»Du wohnst in dem Ferienhaus oben am Weg?«
»Klar, da wohnen wir seit heute. Ich und meine Geschwister und Susanne.«
Sein Interesse für das Kind hatte einen argen Dämpfer bekommen. »Nennst du deine Mutter Susanne? Sie ist doch deine Mutter, oder seid ihr ohne Mutter hier?«
Das Kind zögerte nur einen Augenblick.
»Nee, nee. Wir sagen Susanne zu ihr. Du glaubst doch nicht, daß Kinder allein ein Ferienhaus mieten könnten. Nee, das geht nicht. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen. Wir sind fünf und mit Susanne sechs. Das Haus ist nur klein, aber wir finden es super. Wir werden bestimmt viel Spaß haben, das kannst du mir glauben. Susanne hat versprochen, daß wir abends grillen, und der Bauer hat uns erlaubt, ein Feuer in dem Gärtchen zu machen, das werden wir tun und dann singen wir und Susanne spielt auf ihrer Laute. O Mensch, ich könnte platzen, so freu ich mich. Und du, wohnst du im Dorf? Das Dorf ist ja ganz hübsch, aber es ist viel zu weit vom Wasser entfernt, da könnten wir ja nie allein zum Meer hinkommen.«
Warum fiel es ihm denn so lächerlich schwer, auf diese normale Fragen zu antworten? Er brauchte doch keine Angst zu haben, daß die Kinder zu ihm kamen, der Bauer würde schon dafür sorgen, daß man Abstand hielt und ihn nicht belästigte.
»Ich wohne nicht im Dorf. Da ist es mir viel zu eng und viel zu laut. Ich wohne eurem Häuschen direkt gegenüber.«
Weiter kam er nicht. Die Kinderaugen strahlten ihn an. Goldene Pünktchen glitzerten darin.
»Wirklich? Das ist ja super. Wir haben das Haus gesehen, es sieht genauso drollig aus wie unser Haus. Nur hast du grüne Fensterläden und wir blaue. O Mann, das ist wirklich Spitze. Dann können wir uns ja immerzu besuchen, und wenn Susanne was extra Gutes gekocht hat, dann winken wir dich einfach rüber. Ich kann laut schreien, du hörst das bestimmt.«
Darauf legte er nun wirklich nicht den geringsten Wert.
»Weißt du, Lea, ich habe wenig Zeit«, erklärte