Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa Simon
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»Wie schön«, stieß Julia trokken hervor. Sie hatte einen pelzigen Geschmack im Mund und das Gefühl, jeden Moment die Haltung zu verlieren und der Frau zu sagen, was sie von ihr hielt.
»Roland sagte mir, daß der Junge ständig nach mir gefragt hat, das tut mir so leid.«
Julia sah Marion Seifert an, daß es ihr überhaupt nicht leid tat, daß ihr Sohn seit Jahren darauf wartete, wenigstens einmal von seiner Mutter besucht zu werden, doch sie nickte nur verstehend.
»Ja, jetzt will ich mal wieder. Roland will wieder seine Umfrage machen, wie ich es nenne, aber ich werde es mir heute abend mal so richtig gemütlich machen.«
Dann stakste sie auf viel zu hohen Absätzen davon. Julia sah ihr kopfschüttelnd nach. Sie wußte, daß diese Frau keine Träne vergießen würde, wenn Kevin etwas passiert sein sollte, sie hatte es nur auf Roland abgesehen!
»Die Tante finde ich doof«, sagte Yvonne plötzlich mit leisem Stimmchen neben Julia. »Ich mag sie nicht.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Julia und mußte lächeln, obwohl sie so unsagbar traurig war…
*
Zehn Tage nach Kevins Verschwinden gab es immer noch keinen Hinweis, es schien tatsächlich, als hätte sich das Kind in Luft aufgelöst.
Die Freiwilligen, die sich an der Suche beteiligt hatten, hatten Suche und Hoffnung inzwischen aufgegeben; selbst Ellen Langner von der Polizei machte keinen Hehl daraus, daß man damit rechnen mußte, den Jungen nicht lebend wiederzusehen.
Roland hatte eines Abends bei Julia angerufen und sich entschuldigt, daß er so lange nichts von sich hören gelassen hatte. »Weißt du, Marion nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Ich würde viel lieber wieder mal mit dir durch die Straßen fahren oder eine Tasse Kaffee trinken. Aber du hast ja Marion kennengelernt, sie erzählte mir davon. Da kannst du dir ja vorstellen, wie anstrengend sie ist.«
»Natürlich«, sagte Julia und wischte sich zornig die Tränen aus den Augenwinkeln. »Das glaube ich dir gern.« Ihr Herz war ihr schwer, und sie gab sich die größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie weinte. »Suchst du immer noch weiter?«
»Nein, ich glaube, jetzt kann nur noch der Zufall helfen. Auch die Polizei meint, nach so vielen Tagen erinnert sich sicherlich niemand mehr an einen fünfjährigen Jungen, den er einmal kurz auf der Straße gesehen hat.«
Also gab auch Roland auf. Für ihn und Marion war dies vielleicht auch leichter, weil sie Kevin nie kennengelernt hatten. Aber sie, Julia, liebte den Kleinen über alles und würde weitersuchen, Abend für Abend.
Später, als das Gespräch längst beendet war, stellte sich Julia vor, was Roland und Marion wohl gerade taten. Während sie hier saß und sich die Augen aus dem Kopf heulte, turtelten die beiden Frischverliebten wahrscheinlich herum und hatten anscheinend ihren gemeinsamen Sohn total aus ihrem Gedächtnis gestrichen.
Wie hatte Julia sich bloß so in Roland täuschen können? Sie hatte ihn als verantwortungsvollen Mann eingeschätzt und sich nicht träumen lassen, daß er sich von einer oberflächlichen Person wie Marion umgarnen lassen könnte. Das paßte einfach nicht zu ihm – aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil sie nicht glauben wollte, was Tatsache war…
*
Die Kriminalpolizei hatte den Fall inzwischen übernommen, und Julia mußte genau wie die anderen Betreuerinnen dieselben Fragen noch einmal beantworten, die schon Ellen Langner und deren Kollegin gestellt hatten. Der Kripobeamte Geißler war nicht so freundlich und mitfühlend wie Ellen, sondern wirkte recht brummig, er ließ in den endlosen Befragungen immer wieder durchscheinen, daß das Waisenhaus nicht nur die Verantwortung trug, sondern auch schuld daran war, daß der Junge ›fliehen‹ konnte, wie er sich ausdrückte.
»Na, hören Sie mal!« rief Bärbel Clasen empört. »Ein Waisenhaus ist doch kein Gefängnis. Die Kinder sollen nicht eingesperrt sein, sondern sich soviel wie möglich frei entfalten können. Es ist schon schlimm genug, daß sie ohne Elternliebe aufwachsen müssen.«
»Nun regen Sie sich doch nicht auf, gute Frau«, sagte Geißler in etwas versöhnlicherem Ton. »Sie müssen doch aber selber zugeben, daß Sie es bisher mit den Sicherheitsvorkehrungen nicht allzu genau genommen haben.«
»Bisher war dies auch nicht nötig«, verteidigte sich die Heimleiterin. »Glauben Sie, mir tut es nicht schrecklich leid, was passiert ist? Ich würde alles dafür tun, wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte!«
Julia legte beruhigend ihre Hand auf Frau Clasens Schulter. Auch sie war mit den Nerven am Ende; die endlosen Verhöre, dazu die Sorge um Kevin – das war einfach zuviel für die Frauen vom MARIENKÄFER. Aber sie begriffen natürlich auch, daß Geißler sie nicht unnötig quälen wollte, sondern nur herauszufinden versuchte, ob eventuell ein wichtiger Hinweis versehentlich übergangen worden war.
Bärbel Clasen zitterte vor innerer Erregung, als Geißler endlich das Heim verlassen hatte. »Dieser Kerl bringt mich noch zur Weißglut!« stieß sie hervor. »Wieso habe ich bei jeder Frage von ihm das Gefühl, ein Verbrecher zu sein?«
»Das scheint seine liebenswürdige Art zu sein«, mischte sich Diana ein. »Mich hat er so ausgequetscht, daß ich anfing zu weinen!«
»Und ich hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt«, fügte Marianne hinzu, die vor ein paar Tagen ihren Dienst wieder aufgenommen hatte. »Aber ich habe gehört, daß er ein sehr fähiger Kriminalbeamter ist. Wenn sich Kevin irgendwo hier aufhält, ist es Geißler, der ihn findet.«
»Suchst du immer noch nach dem Jungen?« fragte Diana und sah Julia mitleidig an. Auch sie hatte bemerkt, daß die Freundin stiller als sonst war – und sie wußte auch, daß dieser Zustand mit einer gewissen Marion Seifert zusammenhing. Aber sie hütete sich davor, Julia zu sagen, was sie von Kevins sogenannter Mutter hielt. Sollte sie nur denken, daß niemand von den Kolleginnen bemerkt hatte, wie sehr Julia in Roland Westermann verliebt war…
*
Nachdenklich betrachtete Waltraud Schröder den schlafenden Jungen mit der schwarzen Katze im Arm. Sorgfältig zog sie die Decke etwas höher, denn die Nächte in dem alten Haus waren kühl. Dann schlich sie vorsichtig aus dem Zimmer und schloß leise die Tür.
Merkwürdig, daß Kevin nie etwas von seinen Eltern oder von Heimweh nach ihnen erzählte. Es schien, als habe er sie vergessen während der Zeit, die er bei ihr lebte. Machten sich denn Kevins Eltern nicht langsam Sorgen um ihren Sohn? Oder waren sie noch immer im Urlaub, wie der Junge behauptet hatte?
»Komische Leute müssen das sein, nicht wahr, Luzifer?« Frau Schröder nahm den getigerten Kater hoch und strich ihm über das seidige Köpfchen. »Da mache ich mir ja mehr Sorgen um euch als diese Eltern von Kevin. Na komm, laß uns schlafen gehen, morgen haben wir viel im Garten zu tun…«
*
Bärbel Clasen sank erschöpft in ihren Bürosessel zurück. Wieder einmal hatte Kommissar Geißler der Heimleiterin einen seiner unbequemen Besuche abgestattet und sie mit Fragen gelöchert. Fast tat er so, als würde es sie völlig kalt lassen, was mit dem Kind geschehen war – aber jeder im MARIENKÄFER wußte,