Auferstehung. Лев Толстой
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Nach dem Schwur forderte der Präsident die Geschworenen auf, sich einen Obmann zu wählen. Sofort erhoben sich die Geschworenen von neuem, und begaben sich in ihr Beratungszimmer, wo sich fast alle gleich Cigaretten nahmen und zu rauchen anfingen. Einer schlug vor, die wichtige Persönlichkeit zum Obmann zu wählen, worauf alle sogleich eingingen. Dann warfen die Geschworenen ihre Cigaretten fort und kehrten in den Sitzungssaal zurück. Die wichtige Persönlichkeit erklärte dem Präsidenten, man hätte ihn erwählt, und alle setzten sich wieder auf ihre Sessel mit den hohen Lehnen.
Alles ging ohne Zwischenfall, aber nicht ohne Feierlichkeit vor sich; und diese Feierlichkeit, diese Umstände, diese Formalitäten bestärkten Richter und Geschworene noch in ihrer Ansicht, sie erfüllten eine ernste und würdige, soziale Pflicht. Auch Nechludoff teilte diese Ansicht.
Als die Geschworenen sich gesetzt hatten, hielt der Gerichtspräsident an sie eine Ansprache, um ihnen ihre Rechte, ihre Verpflichtungen und ihre Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen. Beim Sprechen veränderte er fortwährend seine Stellung; bald wandte er sich nach rechts, bald nach links, bald lehnte er sich in seinen Sessel zurück oder neigte sich nach vornüber, bald strich er die Blätter auf dem Tische glatt, bald hob er das Falzbein hoch, bald spielte er mit einem der Bleistifte.
Die Rechte der Geschworenen bestanden nach seinen Worten darin, daß sie den Angeklagten durch Vermittlung des Präsidenten Fragen vorlegen und die Beweisstücke prüfen und berühren durften. Ihre Verpflichtung bestand darin, daß sie gerecht, nach bestem Wissen und Gewissen urteilen mußten. Endlich bestand ihre Verantwortlichkeit darin, daß sie sich, falls sie, ihre Beratungen nicht geheim hielten oder in der Ausübung ihrer Thätigkeit mit Fremden in Verbindung traten, der Strenge der Gesetze aussetzten.
Die Richter hörten das alles mit ernster Aufmerksamkeit an. Der Kaufmann, der einen starken Branntweingeruch um sich her verbreitete, nickte bei jedem Satze zustimmend mit dem Kopfe.
Als der Präsident seine Ansprache beendet, wandte er sich den Angeklagten zu:
»Simon Kartymkin, stehen Sie auf!«
Simon zuckte nervös zusammen und seine Lippen bewegten sich schneller.
»Ihr Name?«
»Simon Petrowitsch Kartymkin,« versetzte der Angeklagte, der sich seine Antworten augenscheinlich schon vorher zurechtgelegt, in einem Zuge mit schwerfälliger Stimme.
»Ihr Stand?«
»Ich bin Bauer!«
»Aus welchem Gouvernement? Aus welchem Bezirk?«
»Aus dem Gouvernement Tula, Bezirk Krapivo, Gemeinde Kupianskoj, Dorf Borki.«
»Wie alt?«
»34 Jahre; ich bin achtzehnhundert ...«
»Welcher Religion?«
»Wir gehören der russischen orthodoxen Religion an.«
»Verheiratet?«
»Wir haben uns nie verheiratet!«
»Was betrieben Sie für ein Gewerbe?«
»Ich war im Korridor des Mauritania-Hotels angestellt.«
»Haben Sie schon vor Gericht gestanden?«
»Ich habe nie vor Gericht gestanden, denn, wie ich lebte ...«
»Sie haben nie vor Gericht gestanden?«
»So wahr es einen Gott giebt, nie!«
»Haben Sie eine Abschrift der Anklage erhalten?«
»Ja, die habe ich erhalten!«
»Setzen Sie sich! Euphemia Iwanowna Botschkoff!« fuhr der Präsident, sich an eine der Frauen wendend, fort.
Doch Simon blieb noch immer stehen und verdeckte die Botschkoff.
»Kartymkin, setzen Sie sich!«
Kartymkin blieb noch immer stehen. Er setzte sich erst, als der Nuntius ihm, den Kopf neigend und die Augen weit aufreißend, mit tragischer Miene den Befehl erteilte, er solle Platz nehmen.
Nun setzte sich der Angeklagte mit derselben Hast, mit der er aufgestanden war, hüllte sich in seinen Mantel und begann wieder, die Lippen zu bewegen.
»Ihr Name?«
Mit einem Seufzer der Abspannung, wie jemand, der sich ärgert, daß er immer dasselbe wiederholen muß, wandte sich der Präsident der ältesten der beiden Frauen zu, ohne sie auch nur anzusehen, und ohne den Blick von einem Papier zu erheben, das er in der Hand hielt. Diese Prozedur war ihm so vertraut geworden, daß er, um schneller damit fertig zu werden, zweierlei zu gleicher Zeit thun konnte.
Die Botschkoff zählte 43 Jahre. Stand: Bürgerin; Beruf: Kammerfrau in dem nämlichen Hotel Mauritania. Sie hatte nie vor Gericht gestanden und die Anklageakte erhalten. Auf die Fragen des Präsidenten antwortete sie mit herausfordernder Keckheit, als wenn sie sagen wollte: »Jawohl, ich bin die Euphemia Botschkoff; ich habe die Anklageakte erhalten; ich rühme mich dessen und erlaube niemandem, darüber zu lachen!« Sie wartete nicht, bis man ihr sagte, sie solle sich setzen, sondern setzte sich gleich, als das Verhör vorüber war.
»Ihr Name?« sagte der Präsident, sich mit ganz besonderer Freundlichkeit an die andere Angeklagte wendend.
»Sie müssen aufstehen!« fügte er in gütigem Tone hinzu, als er bemerkte, daß die Maslow sitzen blieb. Sie stand auf und betrachtete entschlossen, mit geradem Kopfe und vorgestreckter Brust, ohne zu antworten, den Präsidenten mit ihren naiven, schwarzen Augen.
»Wie nennt man Sie?«
Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Man nannte mich Ljuba!« erwiderte sie.
Nechludoff, der sich inzwischen sein Pincenez aufgesetzt, betrachtete die Angeklagte während ihres Verhörs. »Das ist unmöglich,« dachte er, während er die Augen auf das Gesicht der Angeklagten richtete.