Auferstehung. Лев Толстой
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»Da sieht man, daß er tüchtig trank,« flüsterte der Kaufmann, der plötzlich wieder erwacht war, Nechludoff ins Ohr.
Die Verlesung dieser Protokolle hatte fast eine Stunde gedauert; doch der Staatsanwalt war unersättlich. Als der Aktuar die Folgerungen des Gerichtsarztes verlesen, sagte der Präsident, sich zu dem Staatsanwalt wendend: »Ich glaube, die Resultate der inneren Teile brauchen wir nicht zu verlesen!«
»Verzeihung, ich verlange die Verlesung!« sagte der Vertreter des öffentlichen Anklägers in strengem Tone, ohne den Präsidenten anzusehen und beugte sich leicht zur Seite.
Der Richter mit dem langen Bart spürte von neuem Magendrücken und fragte den Präsidenten:
»Weshalb diese Verlesung? Damit verlieren wir nur Zeit!«
Der Richter mit der goldenen Brille sagte nichts. Er starrte mit düsterer, verdrossener Miene vor sich hin, wie ein Mann, der weder von seiner Frau im besonderen, noch vom Leben im allgemeinen etwas Gutes erwartet.
Die Verlesung des Dokuments begann:
Am 15. Dezember 188.. haben wir Endesunterzeichnete, auf Befehl der medizinischen Inspektion, und auf Grund des Artikels...,« begann der Aktuar in entschlossenem Tone zu lesen, als wolle er seine eigene Schläfrigkeit und die des ganzen Saales besiegen – »in Gegenwart des Delegierten der oben erwähnten medizinischen Inspektion die Analyse der nachfolgenden Gegenstände vorgenommen:
1. Der rechten Lunge und des Herzens (in einem sechs Pfund fassenden Pokal befindlich).
2. Des Inhalts des Magens (in einem Sechspfund-Pokal befindlich).
3. Des Magens (in einem Sechspfund-Pokal befindlich).
4. Der Leber, der Galle und Milz (in einem Dreipfund-Pokal befindlich).
5. Der Eingeweide (in einem sechs Pfund fassenden Glaspokal befindlich).
Bei dieser Stelle flüsterte der Präsident erst dem einen, dann dem andern Beisitzer etwas ins Ohr. Nachdem er von beiden eine bejahende Antwort erhalten, machte er dem Aktuar ein Zeichen, mit der Verlesung aufzuhören, und erklärte:
»Der Gerichtshof hält diese Verlesung für unnötig!«
Der Aktuar schwieg sofort und legte die Blätter des Protokolls zusammen, während sich der Staatsanwalt mit zorniger Miene etwas notierte.
»Die Herren Geschworene» können jetzt von den Beweisstücken Kenntnis nehmen,« sagte der Präsident.
Eine große Anzahl der Geschworenen erhoben sich und näherten sich dem Tische, wo sie sich den Ring, die Pokale und den Filter ansahen. Der Kaufmann wagte es sogar, den Ring an den Finger zu stecken und sagte zu Nechludoff, während er wieder auf seinen Platz zurückging:
»Na, das ist ein Finger! So dick wie 'ne Gurke!«
Als die Geschworenen die Beweisstücke betrachtet hatten, erklärte der Präsident die Beweisaufnahme für geschlossen und erteilte sofort dem Staatsanwalt das Wort. Er sagte sich, auch der Staatsanwalt sei ein Mensch, auch er wolle sicherlich rauchen und essen und würde deshalb mit den Anwesenden Mitleid haben. Doch der Staatsanwalt hatte weder mit sich, noch mit den andern Mitleid. Dieser von Hause aus dumme Beamte hatte außerdem das Unglück, daß er das Gymnasium mit einer goldenen Medaille verlassen und später auf der Universität für seine Dissertation über »Die Knechtschaft im Römischen Recht« einen Preis erhalten hatte; deshalb war er im höchsten Grade eingebildet, eitel und selbstbewußt, wozu seine Erfolge bei den Frauen übrigens noch beigetragen hatten; und die Folge von all' dem war, daß seine natürliche Dummheit einen ungeheuren Umfang angenommen hatte.
Als der Präsident ihm das Wort erteilt, erhob er sich langsam, legte die Hände auf sein Pult, neigte den Kopf, warf einen langen Blick auf die Anwesenden, mit Ausnahme der Angeklagten und begann seine Rede, die er während der Verlesung der Protokolle entworfen:
»Der Ihrem Urteil unterbreitete Fall, meine Herren Geschworenen, bildet, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein ganz besonders charakteristisches Beispiel des Verbrechertums.«
Die Anklage des Staatsanwalts mußte wohl seiner Ansicht nach eine allgemeine Tragweite haben, und insofern den berühmten Reden gleichen, die den Ruhm der großen Advokaten begründet hatten. Seine Zuhörerschaft bestand zwar an diesem Tage nur aus Köchinnen, Näherinnen, Kutschern und Laststrägern, doch dieser Umstand konnte ihn nicht aufhalten. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, sich stets, wie er sagte, »zum Gipfel der Fragen zu erheben«, aus jedem Vergehen die psychologische Bedeutung auszulösen und die soziale Wunde, die dieses Vergehen ausdrückte, bloßzulegen.
»Meine Herren Geschworenen, Sie sehen ein durch und durch typisches Verbrechen unserer Jahrhundertswende vor sich, das sozusagen alle spezifischen Züge des eigentümlichen moralischen Zersetzungsprozesses an sich trägt, der heute zahlreiche Elemente unserer Gesellschaftsklasse ergriffen hat ...«
Der Staatsanwalt sprach in diesem Tone längere Zeit, Er hatte während seiner Rede vornehmlich zweierlei im Auge: erstens bemühte er sich, alle auf den Fall bezüglichen Thatsachen, große wie kleine, zu erwähnen; andererseits hielt er nicht eine Minute inne, so daß seine Rede ununterbrochen mindestens 1 1/4 Stunde dahinfloß. Einmal mußte er aber doch innehalten, weil er den Faden seiner Beweisführung verloren hatte; doch gleich darauf begann er von neuem und holte diese augenblickliche Störung durch doppelte Beredsamkeit wieder ein. Er sprach bald mit einschmeichelnder Baßstimme, bald in natürlichem, gesetztem Tone, bald mit begeisterter Donnerstimme. Nur den Angeklagten, die alle drei die Angen auf ihn richteten, ward nicht die Ehre eines Blickes zu teil. Seine Anklagerede strotzte von den neuesten Formeln, die in seinem Kreise Mode waren und damals für die höchste Wissenschaft galten, ja selbst heute noch dafür gelten. Es war darin von Erblichkeit, von angeborener Neigung zum Verbrechen, von Lombroso und Tarde, von Entwickelung, dem Kampf um's Dasein, von Charcot und Entartung die Rede.
Der Kaufmann Smjelkoff war nach der Erklärung des Staatsanwalts der Typus des natürlichen, kraftstrotzenden Russen, der durch seine Vertrauensseligkeit und Freigebigkeit das Opfer höchst verrohter Geschöpfe geworden war, in deren Hände er gefallen war. Simon Kartymkin war das atavistische Produkt der alten Leibeigenschaft, ein unbeholfener Mensch, ohne Erziehung, ohne Grundsätze, ohne Religion. Euphemia Botschkoff, seine Geliebte, war ein Opfer der Erblichkeit; ihre körperliche Erscheinung und ihr moralischer Charakter wiesen alle Anzeichen der Entartung auf. Doch die Hauptanstifterin des Verbrechens war die Maslow, die den Typus der modernen sozialen Dekadenz in ihrer niedrigsten Form darstellte.
»Dieses Geschöpf,« fuhr der Staatsanwalt, ohne sie anzusehen, fort, »hat