Verborgener Ruhm. Dietmar Grieser

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Verborgener Ruhm - Dietmar Grieser

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Von Natur hochmusikalisch, begeistert sie sich vor allem für Beethoven, hört allabendlich Schallplatten mit den Werken ihres Lieblingskomponisten, vertieft sich in seine Briefe, entdeckt seine weithin unbekannte Hinneigung zu fernöstlicher Mystik.

      Als Madeleine 16 ist, wird ihr Vater als Oberkommandierender der britischen Flottenbasis in Ostasien nach Bombay versetzt, die Familie folgt ihm in die indische Handelsmetropole mit dem bedeutenden Seehafen. Daß der einer angesehenen Hindu-Familie entstammende Mohandas Karamtschand, der nach seinem Universitätsstudium in England zunächst als Rechtsanwalt in Bombay wirkt, ehe er unter dem Ehrentitel Mahatma Gandhi den gewaltfreien Kampf gegen die britische Herrschaft in Indien aufnimmt, dereinst zu ihrem Idol, zu ihrer Leitfigur, ja zu ihrem Schicksal werden würde, kann sie zu dieser Zeit nicht ahnen …

      Madeleine kehrt in ihre englische Heimat zurück, wo sie sich vor allem in der Landwirtschaft nützlich macht. Als der Erste Weltkrieg vorüber ist und der zeitbedingt eingeschränkte Konzertbetrieb wieder voll aufblüht, setzt die inzwischen Sechsundzwanzigjährige, deren Leidenschaft für die Musik Beethovens sich noch intensiviert hat, alles daran, für ihre Landsleute Konzerte zu organisieren, bei denen auch die Werke des Wiener Meisters auf dem Programm stehen. Es will ihr nicht in den Kopf, daß die Engländer vor lauter Deutschen-Haß sogar Beethoven boykottieren.

      Um ihrem musikalischen Abgott noch näher zu kommen, beschließt sie, mit dem französischen Schriftsteller Romain Rolland in Kontakt zu treten, dessen Roman »Jean-Christophe« eine versteckte Beethoven-Huldigung ist. Dazu muß sie allerdings erst dessen Sprache erlernen: Mit dem Eifer des durch nichts zu bremsenden Fans stürzt sich Madeleine Slade in den Französisch-Unterricht. Und als sie schließlich dem großen Dichter, der 1915 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist (den er dem Roten Kreuz zur Verfügung gestellt hat), an seinem Schweizer Wohnort Villeneuve gegenübersteht, erfährt sie, daß Rolland sich in der Zwischenzeit einem weiteren Großen der Kulturgeschichte zugewandt und eine Romanbiographie über Mahatma Gandhi herausgebracht hat.

      Glühend vor Erregung verschlingt sie die Geschichte des indischen Freiheitskämpfers, Friedensapostels und Asketen, erkennt in dessen Lebenswerk ihre eigene Berufung und faßt den Entschluß, sich Hals über Kopf der »Großen Seele« (nichts anderes bedeutet der Beiname Mahatma in deutscher Übersetzung) anzuschließen.

      Der spontane Erwerb einer Schiffskarte nach Indien erweist sich allerdings als überstürzt: Madeleine muß sich zuerst einmal Hindustani, die Hauptsprache ihrer künftigen Wahlheimat, aneignen; auch das Leben in den klösterlichen Ashrams, das sie auf sich zukommen sieht, bedarf gründlicher Vorbereitung. Systematisch stellt die alle Konventionen ihres Elternhauses Negierende ihre Lebensweise auf Vegetariertum und Genußmittelabstinenz um, übt sich im Spinnen und Weben, lernt mit gekreuzten Beinen auf dem Boden zu sitzen und auf blankem Fußboden zu schlafen.

      1925 ist es soweit: Die Dreiunddreißigjährige tritt im Sabarmati-Ashram in Gandhis Dienste, nimmt den Namen Mira-behn an, stürzt sich mit Feuereifer in die Arbeit mit den Eingeborenen, bringt ihnen die verschiedensten handwerklichen Fertigkeiten bei, kocht für sie, betet mit ihnen, teilt mit ihnen ihr Leben. Und da sie ihre Sache gut macht, außerdem mit größter Zähigkeit an ihrer eigenen Vervollkommnung weiterarbeitet und schließlich sogar das Brahmacharya erreicht, eine Art indisches Keuschheitsgelübde, kommt der Tag, wo Mahatma Gandhi die gebürtige Engländerin zu seiner engsten Mitarbeiterin bestimmt, die ihm, dem 23 Jahre Älteren, die nach strengen Regeln zuzubereitenden Mahlzeiten auftischt, die Wäsche reinigt, die Beine massiert, ihm die Sekretariatsarbeiten abnimmt, ihn um 3 Uhr früh zum gemeinsamen Gebet weckt und auch auf manchen seiner Reisen an seiner Seite ist.

      Sie schmuggelt seine Geheimpost ins Ausland, wirbt in England und Amerika mit Vorträgen für Gandhis Lebenswerk, trifft mit Präsident Roosevelt, Lord Mountbatten und Winston Churchill zusammen, nimmt sogar, von ihren ehemaligen Landsleuten aufgegriffen, mehrfache Gefängnishaft auf sich (wo sie den Tod der im selben Kerker schmachtenden Gandhi-Ehefrau miterleben muß), und als sie in einem der schmutzstarrenden Dörfer, in denen sie als Helferin eingesetzt ist, an Typhus erkrankt, ist es Gandhi persönlich, der die eingemeindete Fremde gesundpflegt.

      Die Schreckensnachricht von seiner Ermordung – Gandhi wird am 30. Jänner 1948 von einem fanatischen Hindu auf einem Gebetsplatz in Delhi erschossen – erfährt Mirabehn während eines Aufenthaltes im Norden des Riesenreiches, wo sie gerade im Begriff ist, ein großes Rinderzuchtprojekt in die Wege zu leiten. Von dem Verlust zutiefst betroffen, doch in ihrem missionarischen Elan ungebrochen, setzt Mirabehn ihr Reformwerk im inzwischen unabhängigen Indien fort, widmet sich neuen Viehzuchtprojekten, etwa der Kreuzung von aus England importierten Dexter-Rindern mit tibetischen Hochland-Yaks, und erweitert ihr Betätigungsfeld schließlich auch auf akute Umweltprobleme wie die Eindämmung der zu verheerenden Überschwemmungen führenden Waldrodungen im Himalaya. Als sie jedoch erkennen muß, daß die zuständigen Regierungsstellen bei ihren kühnen Plänen nicht mitziehen, verlegt sie sich aufs Schreiben und tritt mit zwei Büchern an die Öffentlichkeit: »The Spirit’s Pilgrimage« und »The Thought of Mahatma Gandhi«.

      1962. Mirabehn, inzwischen eine Frau von fast 70, hält den Zeitpunkt für gekommen, noch ein weiteres Mal eine Wende in ihrem abenteuerreichen Leben anzupeilen. Sie knüpft dort an, wo ihre Selbstverwirklichung als junges Mädchen eingesetzt hat: damals, in ihrer Heimat England, als die erste Begegnung mit der Musik Beethovens die Fünfzehnjährige in einen anhaltenden Rauschzustand versetzt hat. Dieser Leidenschaft, die durch die Jahre in den indischen Ashrams zwangsläufig in den Hintergrund getreten ist, will sie ihren Lebensabend widmen – und zwar direkt an der »Quelle«: Sie beschließt, sich in Österreich niederzulassen. Die Orte, an denen der Meister gewirkt hat, sind ihr Ziel. In Wien findet sie Unterschlupf in der Residenz des indischen Botschafters; es folgen Quartiere in den Wienerwaldgemeinden Gaaden und Sulz, in Gneixendorf, schließlich in Kracking bei Sieghartskirchen.

      Die österreichischen Freunde, die ihr dabei zur Hand gehen, haben es nicht leicht bei der Wohnungssuche für die ganz und gar vom Geist Gandhis geprägte Frau: Es müssen vor allem einfache Domizile sein, einstöckig-ebenerdige, am besten ortsferne und waldnahe Gartenhäuschen mit reichlich Grün drumherum. Ofenheizung lautet eine weitere Bedingung: Holz ist das einzige Brennmaterial, das sie zuläßt. Ihr Mobiliar ist von mönchischer Kargheit: die einfache Liegestatt, die mit indischen Stoffen bedeckten Sessel, der Schreibtisch mit dem roten Kiesel aus den Tiefen des Ganges, die Getreidemühle fürs täglich frisch bereitete Mehl, das hölzerne Geschirr und Besteck.

      Mirabehn reist nicht allein an: Rameshwar Datt, ihr aus Indien mitgebrachter Diener, geht ihr bei allen anfallenden Hausarbeiten zur Hand, besorgt die täglichen Einkäufe. Bei der spartanischen Lebensweise, die für sie keineswegs Entbehrnis bedeutet, sondern höchstes Glück, kommt man mit den 7000 Schilling, die ihr allmonatlich als Rente der indischen Regierung überwiesen werden, leicht aus.

      Aus der Beschäftigung mit Leben und Werk ihres Abgottes Beethoven geht ein umfangreiches Buchmanuskript hervor; zu Lebzeiten unveröffentlicht, wird sich »Beethoven’s Mystical Vision« später in ihrem Nachlaß finden. Umso begehrter ist ihre Mitwirkung bei dem großen Gandhi-Film, den der englische Regisseur Richard Attenborough seit langem plant: Wiederholt kommt der 30 Jahre Jüngere auf Besuch nach Österreich, um Mirabehns Rat bei der Erstellung des Drehbuchs einzuholen. Schließlich ist sie selber eine der Hauptfiguren des 1981 gedrehten Streifens: Candice Bergen ist für die Rolle der charismatischen Gandhi-Jüngerin vorgesehen. Sie selber wird den Film, der mit einem Oscar für die beste Regie ausgezeichnet werden wird (und in dessen Titelpartie Ben Kingsley brilliert), nicht mehr erleben: Schon seit einiger Zeit kränkelnd, wiederholt in Wiener Spitälern behandelt und zuletzt auch mit einem Herzschrittmacher ausgestattet, stirbt Mirabehn alias Madeleine Slade vier Monate vor ihrem 90. Geburtstag, umsorgt von ihrem treuen Diener, in ihrem letzten österreichischen Domizil.

      Nach ihrem Grab wird man allerdings vergebens suchen: Mirabehns Leichnam wird weder auf dem Ortsfriedhof von Sieghartskirchen noch in ihrer Geburtsheimat England (deren Staatsbürgerschaft sie niemals aufgegeben hat)

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