Verborgener Ruhm. Dietmar Grieser
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Daß sich Gertrude in »ihren« Chinesen verliebt hat (und er in sie), wagt sie vorerst nur ihren engsten Freundinnen zu beichten. Ältestes Kind des aus Mähren stammenden Oberwachmannes Konrad Wagner, der in der Marokkanergasse als Waffenmeister tätig ist und mit seiner Familie eine Dienstwohnung im Nebentrakt, also in unmittelbarer Nachbarschaft der chinesischen Polizeianwärter innehat, lebt die ehemalige Klosterschülerin, die seit kurzem als Verkäuferin in einem Kurzwarengeschäft auf der Landstraßer Hauptstraße arbeitet, wohlbehütet im streng katholischen Elternhaus und kann nicht damit rechnen, daß die Familie dem verwegenen Plan zustimmt, den sie und Chengrong vor dessen Heimreise nach China – im Dezember 1933 sind die drei Wien-Jahre abgelaufen – in aller Stille geschmiedet haben: für ihr weiteres Leben beisammenzubleiben, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Und natürlich nicht in Österreich, sondern in Du Chengrongs Heimat China …
Nicht nur Gertrudes Eltern legen sich quer, auch die besorgten Geschwister können sich nicht vorstellen, daß eine solche Verbindung Bestand hat, obwohl sie Chengrong als einen wohlerzogenen und charakterfesten jungen Mann kennengelernt haben. Die zum Zeitpunkt seiner Abreise gerade 17 Gewordene muß also ein volles Jahr zuwarten, bis sie, nunmehr mündig, jenes Versprechen einlösen kann, das die beiden Liebenden einander gegeben haben, als sie im September 1933 – wie romantisch! – im Theater an der Wien einer Aufführung der Lehár-Operette »Das Land des Lächelns« beigewohnt und bei der Arie »Dein ist mein ganzes Herz« heimlich Verlobung gefeiert haben.
Du Chengrong, inzwischen also wieder im heimatlichen China, kann sich nicht sattsehen an den Fotos von der hübschen Blondine mit dem warmherzigen vollen Gesicht, die ihn überallhin begleiten, und Gertrude ihrerseits schöpft die für die Verwirklichung ihres Lebenstraumes erforderlichen Kräfte aus den Briefen, die ihr der Geliebte schreibt und denen bald auch ein Paket folgt, dem sie neben einer Reihe weiterer kostbarer Gaben aus ihrer künftigen Wahlheimat einen wunderschönen Fächer entnimmt.
Pünktlich zu ihrem achtzehnten Geburtstag trifft auch das Geld für die Schiffsreise ein, und so besteigt Gertrude noch im Dezember 1934 den Zug nach Triest, um von dort an Bord des Überseedampfers »Conte Rosso« mutterseelenallein die Fahrt ins Reich der Mitte anzutreten. Im Hafen von Schanghai sinken die beiden Liebenden einander in die Arme; die Grußkarte von der glücklichen Ankunft, die sogleich nach Wien abgeschickt wird, trägt nicht nur Gertrudes, sondern auch Chengrongs Unterschrift.
In Hangzhou, der Hauptstadt der Provinz Zhejiang, bezieht das junge Paar ein vom Bräutigam gemietetes schönes Einfamilienhaus, am 24. Februar 1935 findet die Trauung statt, aus der Österreicherin Gertrude Wagner wird die Wahlchinesin Hua Zhiping. Die eigentliche Hochzeit wird jedoch in Chengrongs Elternhaus in dem Dorf Hucang gefeiert.
Der junge Ehemann, im Begriff, mit Hilfe der in Österreich erworbenen Kenntnisse seine Karriere als Lehrer an einer Reihe von Polizeiakademien zu starten, kann, wo immer ihn seine Vorgesetzten einsetzen, seiner Frau ein Leben voller Annehmlichkeiten bieten. Sie selber stürzt sich mit Eifer ins Studium der fremden Sprache und der fremden Schrift. Und auch der von beiden ersehnte Kindersegen bleibt nicht aus: Der erste der insgesamt fünf Sprößlinge wird auf den Namen Alfred getauft; es folgen Peter, Elisabeth, Trude und Edith. Das einzige, was das Familienglück in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nachhaltig trübt, sind die sich rasch verändernden politischen Verhältnisse in Gertrudes Gastland. Ist es zuerst der Krieg mit den Japanern, der Chengrong und die Seinen zu Flüchtlingen im eigenen Land macht, so bedeutet die Machtergreifung der Kommunisten für Bürger der Mittelklasse schwerste Diskriminierung; den Terror der Kulturrevolution übersteht nur, wer sich der »Umerziehung« durch die Roten Garden stellt, und auch das spätere Ringen um Rehabilitierung zehrt gewaltig an den Kräften: Du Chengrong ist gegen Ende seines Lebens ein von Verfolgung, Demütigung und Not ausgelaugter Greis. Der Herzenswunsch, mit seiner Gertrude noch zu einer letzten Reise – zu einer Reise an die Große Mauer – aufzubrechen, bleibt unerfüllt: Er stirbt am 28. April 1990 an Krebs. Der einzige Trost, der ihm bleibt, ist die Gewißheit, daß seine geliebte Gefährtin, die ihm auch in den Phasen tiefster Verzweiflung treu zur Seite gestanden ist, ihren Lebensabend nicht in Einsamkeit zubringen wird: Die Familie, inzwischen durch eine ganze Schar von Enkelkindern kräftig gewachsen, ist, wenn Hilfe gebraucht wird, verläßlich zur Stelle.
Waren Gertrude auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution alle Habseligkeiten entrissen worden, die die Verbindung zu ihrem Herkunftsland wachhielten, also die alten Familienphotos und Dokumente, die Briefe aus Wien und die kostbare Sammlung deutschsprachiger Bücher, ja war sogar jegliche Unterhaltung in ihrer Muttersprache unter Strafe gestellt worden, so ist es nun, wenige Tage vor Chengrongs Ableben, ein umso aufwühlenderes Erlebnis, zum erstenmal nach Jahrzehnten Besuch aus Österreich zu erhalten: Universitätsprofessor Gerd Kaminski, einer der Pioniere bei der Wiederherstellung der österreichisch-chinesischen Beziehungen, hat vom Schicksal seiner ehemaligen Landsmännin Gertrude Wagner erfahren und eine Reise an deren neuen Lebensort organisiert. Kaminski kommt nicht mit leeren Händen: Obwohl Gertrude nichts ferner liegt, als an eine Rückkehr in ihre Heimat zu denken, läßt es die Dreiundsiebzigjährige nicht ungerührt, aus den ihr auf Betreiben ihres in Wien lebenden Bruders Walter übermittelten Dokumenten zu ersehen, daß ihre österreichische Staatsbürgerschaft nicht erloschen ist, sondern jederzeit wieder von ihr in Anspruch genommen werden kann.
Nein, China auf Dauer zu verlassen, kommt für sie auch jetzt, wo sie Witwe geworden ist, keinesfalls in Frage: Gertrude Wagners Platz ist und bleibt das kleine Dorf Hucang, wo sie ihren Mann zu Grabe getragen hat. Das einzige, zu dem sie sich überreden läßt, ist, dem Ruf des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk zu folgen, der sie zu einem mehrmonatigen Besuch in der alten Heimat eingeladen hat.
Von einer ihrer Töchter begleitet, trifft Gertrude Ende Oktober 1990 auf dem Flughafen Schwechat ein, bezieht eine Gästewohnung in der Wiener Innenstadt, trifft sich mit ihren Verwandten, sucht die Adressen ihrer Kindheit und Jugend auf, verweilt am Grab ihrer Eltern. Im Belvedere bestaunt sie die Gemälde der alten Meister, im Musikverein wohnt sie dem Neujahrskonzert der Philharmoniker bei, Ausflüge in den Prater und an den Neusiedlersee regen sie zu Vergleichen mit den Landschaften in ihrer neuen Heimat an. Natürlich wird sie von allen ihren Begleitern mit der Frage bombardiert, ob sie denn nicht Lust hätte, dazubleiben. Gerd Kaminski, der Gertrude Wagners ungewöhnlichem Lebensweg einige Jahre später ein fesselndes Buch widmen wird («Verheiratet mit China«), hält ihre Antwort im Originalton fest: »Nein, ich fahre zurück. Wien ist schön. Und ich danke dem Herrgott, daß ich noch einmal hier sein durfte. Aber meine Heimat ist China. Dort sind meine Kinder und Enkel.«
Eines freilich kann sie nicht verhindern: Obwohl heimgekehrt in ihr stilles Dorf im Südosten des Riesenreiches China, ist Gertrude Wagner alias Hua Zhiping nun eine Person des öffentlichen Interesses geworden. Bei einem zu ihren Ehren veranstalteten Bankett in der Österreichischen Botschaft, zu dem sie, begleitet von ihren Töchtern Elisabeth und Trude, nach Peking reist, wird sie mit einem Orden der Republik Österreich ausgezeichnet; der ORF und der Staatssender der Provinz Zhejiang drehen mit ihr eine Fernsehdokumentation, die sowohl beim österreichischen als auch beim chinesischen Publikum eine Welle des Mitgefühls auslöst; auch die Presse beider Länder stürzt sich auf das Thema; und um die Berge von Post zu bewältigen, die ihr daraufhin von überallher zugeht, müßte sie sich eigentlich Autogrammkarten drucken lassen. Nur die Uraufführung des Spielfilms »Am anderen Ende der Brücke«,