Frauenwahlrecht. Группа авторов
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Es gab also – wie übrigens auch in Großbritannien oder den USA – viele widerstreitende Meinungen im großen Feld der Frauenstimmrechtsbewegung, doch können diese nicht mit »radikal« oder »gemäßigt«, geschweige denn mit Zustimmung oder Ablehnung erklärt werden. Vielmehr sind die Unterschiede auf verschiedene taktische Herangehensweisen, aber auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass die bürgerliche Frauenbewegung zum ersten Mal versuchte, ein dezidiert (partei)politisches Thema innerhalb ihrer sich als parteipolitisch neutral verstehenden Bewegung zu platzieren. Dabei zeigte sich, dass eine umfassende Frauensolidarität, die noch beim Kampf um das Bürgerliche Gesetzbuch von 1890 bis 1900 als Argumentationsgrundlage funktioniert hatte – da das BGB ja Frauen als Geschlechtsgruppe massiv diskriminierte –, in der Frage nach dem Wahlrecht nicht trug.44 Vielmehr wurde deutlich, dass der (partei)politische Hintergrund der Frauenbewegungsaktivistinnen eine viel größere Rolle spielte als die gemeinsame Opposition gegen den Ausschluss vom Wahlrecht.
Eine selbstverständliche Übernahme?
Wenn aber – wie oben dargestellt – die Quellen darauf hinweisen, dass die Frauenstimmrechtsbewegung als Teil der Frauenbewegung verstanden werden muss, und zwar als Teil, an dem sich viele Richtungen und Strömungen beteiligten, warum ist dann in der Forschungsliteratur der 1970er bis 1990er Jahre (und teilweise auch heute noch) die angeblich herausragende Rolle der »Radikalen« so betont worden? An dieser Stelle scheint es sinnvoll zu sein, sich einige der Einschätzungen der Forschung noch einmal anzusehen und zu versuchen, deren Herangehensweise zu rekonstruieren.
In Bezug auf die Behauptung der hier zu untersuchenden Forschung, die deutsche Frauenbewegung sei erst verhältnismäßig spät in den Kampf um das Frauenwahlrecht eingestiegen, wird nach einer Re-Lektüre der Quellen deutlich, dass hier die Bewegung um 1900 selbst den Interpretationsrahmen vorgegeben hat, den spätere Forscherinnen dann unreflektiert übernommen haben. Als Beispiel kann exemplarisch auf den bereits erwähnten Artikel von Anna Lindemann aus dem Jahr 1913 verwiesen werden. Sie beginnt ihren Artikel mit den Worten: »Spät, viel später als die Frauen anderer uns nah verwandter Nationen, haben sich die deutschen Frauen eine Organisation geschaffen zur Erringung ihrer politischen Gleichberechtigung.«45 Diese Aussage findet sich auch in anderen zeitgenössischen Schriften immer wieder, interessanterweise bereits seit dem Beginn der Wahlrechtsdebatten seit Mitte der 1890er Jahre. Auch Helene Lange schreibt 1896 in ihrer frühen Arbeit zum Frauenstimmrecht, dass der Zeitpunkt des Eintretens für das Frauenstimmrecht in jeder Nation ein anderer sein wird, um dann fortzufahren: »… daß endlich Deutschland mit seiner lastenden Büreaukratie, seinem Schematismus und Militarismus in dieser Frage am allerweitesten zurück ist.«46 Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass 1902 in Die Frauenbewegung, dem Blatt von Minna Cauer, über die Gründung des Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht geschrieben wurde: »Auch Deutschland braucht nunmehr nicht als einziges Land ohne Stimmrechtsbewegung beiseite zu stehen auf dem Internationalen Stimmrechtskongreß der Frauen, der […] in Washington abgehalten wird.«47 Bei dieser gleichlautenden Argumentation drängt sich die Frage auf, was mit dieser Verlautbarung eigentlich erreicht werden sollte. Denn den damaligen Aktivistinnen dürfte klar gewesen sein, dass von einer Verspätung der deutschen Frauenstimmrechtsbewegung chronologisch gesehen nicht die Rede sein konnte, denn andere Länder wiesen keineswegs generell früher eine organisierte Frauenstimmrechtsbewegung auf.48
Das Argument der Verspätung zielte – meiner Meinung nach – in zwei Richtungen. Einmal wurde es intern in die Bewegung hinein genutzt, um den eigenen Mitgliedern zu verdeutlichen, dass diese Thematik bereits erfolgreich in anderen Ländern (und seien dies noch so wenige) auf die Tagesordnung gesetzt worden war. Die deutsche Frauenbewegung könne hier – wollte sie im internationalen Konzert wahrgenommen werden – nicht zurückstehen. Gleichzeitig diente der Blick ins Ausland aber auch dazu, der bewegungsexternen Öffentlichkeit den Gleichklang des Kampfes der Frauenbewegungen weltweit zu verdeutlichen und damit darauf hinzuweisen, dass das Ringen der Frauenbewegung in Deutschland nicht singulär zu begreifen war. Der deutschen Öffentlichkeit sollte so gezeigt werden, dass die Forderungen der nationalen Frauenbewegung durch die gleichlautenden Kämpfe im Ausland legitimiert waren. Diese Strategie findet sich sowohl in den Zeitschriften, in denen immer über das fortschrittliche Ausland berichtet wird, um dann die eigene Rückständigkeit geißeln zu können, als auch in den größeren Schriften der Protagonistinnen. Mit diesem Vorgehen hatte die Bewegung eine Methode gefunden, ihre eigenen Forderungen nicht als singulär und dadurch unwichtig erscheinen zu lassen, sondern als für eine »Kulturnation«, die sich im internationalen Reigen der Nationen bewegen wollte, notwendig, um anschlussfähig zu bleiben.49 Vor allem in der Anfangsphase eines neuen Themas in der Frauenbewegung bringt die Aufnahme von internationalen Argumenten und sogar Propagandainstrumenten in der eigenen Öffentlichkeit große Vorteile.50
Insgesamt möchte ich hier die These aufstellen, dass die frühen Forschungsarbeiten deshalb zu ihren Ergebnissen gekommen sind, weil sie unreflektiert bewegungsinterne Argumentationen übernommen haben, und hier vorrangig solche, die aus der »radikalen« Richtung kamen. Dies kann sehr gut an den zeitgenössischen, die Entwicklung der Frauenstimmrechtsbewegung »zusammenfassenden« Artikeln gezeigt werden. So ist in dem bereits zitierten Artikel der »radikalen« Anna Lindemann aus dem Jahr 1913 exakt die Einschätzung zu finden, die aus der Forschungsliteratur der 1980er Jahre so vertraut ist: die Verspätung im internationalen Kontext, die angebliche Vorreiterrolle der sich selbst als Radikale verstehenden Protagonistinnen bei einer ersten Organisation und die Debatten zwischen den verschiedenen Flügeln der Frauenstimmrechtsbewegung. Auch ein Artikel von Auguste Kirchhoff, ebenfalls der »radikalen« Richtung nahestehend, zur Entwicklung der Frauenstimmrechtsbewegung aus dem Jahr 1916 zeichnet das Bild der radikalen Vorreiterstellung in der Frage des Frauenstimmrechts nach. Hier liest man davon, dass die Frauenstimmrechtsforderungen im BDF auf wenig Gegenliebe stießen, da man »zugestandenermaßen von ihrer Propagierung eine Beeinträchtigung der anderen Bundesinteressen« fürchtete.51 Auch in der Autobiografie von Lida Gustava Heymann – in Zusammenarbeit mit Anita Augspurg 1941 im Schweizer Exil verfasst – findet sich die Erzählung der sich (unversöhnlich) gegenüberstehenden beiden Frauenbewegungsflügel, deren »radikaler« Flügel alleine den Kampf um das Frauenstimmrecht aufnahm.52 Es ist dieses Bild, welches die Forschungsliteratur bis heute prägt.
Es können an dieser Stelle nur erste Hinweise und Überlegungen erfolgen. Doch schon jetzt lässt sich erahnen, dass die Geschichte des Kampfes um das Frauenwahlrecht und der Beitrag der Frauenbewegung daran auf der Basis einer Re-Lektüre zentraler Quellen neu erzählt werden müsse. Dies wär auch dringend geboten, denn bisher ist der Kampf der deutschen Frauenbewegung um die Demokratie in Deutschland zu wenig in den historischen Standardwerken bedacht worden. Die Frauenbewegung als politische Kraft, als soziale Bewegung, die auf dem Weg zur Politisierung und Demokratisierung der deutschen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielte, in dem sie die Auswirkungen der unhinterfragten Geschlechterdifferenz auf Politik und Gesellschaft thematisierte, könnte so wieder sichtbar werden.
1Ute