Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele
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Читать онлайн книгу Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele страница 12
Wolken gefrorener Atemluft bauschen sich vor unseren Mündern. Untergehakt stapfen wir die letzten Schritte zum Eingang. In der Mitte des Raumes knistern Holzscheite in einem offenen Kamin.
»Hübsch hier.« Ich zeige mich begeistert, vermisse aber die Möglichkeit, einem gewissen Rothaarigen über den Weg zu laufen.
»Finde ich auch.« Sie nimmt die Speisekarte.
»Anne, lass dir endlich erzählen. Bist du nicht neugierig, was gestern Abend passiert ist?«
Ihre Reaktion überrascht mich. Sie sieht mich ernst an. »Nicht jetzt. Dazu ist später noch Zeit.«
Ein ungutes Gefühl beschleicht mich.
»Ich muss dir etwas sagen«, fährt sie unsicher fort. Sie stockt und schaut zu Boden. »Wir müssen unsere Zelte abbrechen und leider heute noch abreisen.«
Mir wird kalt, und mein Appetit ist verflogen. »Warum das denn?« Ich bin den Tränen nahe.
»Tut mir leid, aber es ist nun einmal so. Ich kann es nicht ändern.«
Sie löffelt schweigend ihre Suppe und lässt mich mit bohrenden Fragen zurück.
ANNE
Die Rückfahrt im Cinquecento kommt mir ewig lang vor. Das liegt vermutlich daran, dass wir nicht miteinander reden.
Es geht steil bergab, die Strecke ist kurvig, und Lili ist sauer. Sie schmollt.
Himmel, auch mir ist diese Entscheidung nicht leichtgefallen, aber ein weiteres Zusammentreffen von Paul und meiner Schwester musste ich um jeden Preis verhindern. Dabei hatte ich die ganze Zeit über Angst, dass Lili auf die Idee kommen könnte, allein im Hotel wohnen zu bleiben. Bis auf das selbstständige Organisieren ihrer Rückfahrt hätte nichts dagegengesprochen, aber es kam ihr nicht mal in den Sinn. Manchmal hat ihre Weltfremdheit auch etwas Gutes.
Erst als wir vor ihrer Wohnung ankommen, bricht meine Schwester das Schweigen.
»Ausgerechnet ein Fotoshooting am Meer?« Sie wirft mir einen Blick zu, der verrät, dass sie mir nicht glaubt.
»Ja, es gibt auch im Winter Fotostrecken an Stränden, sogar mit richtigen Modellen«, sage ich angriffslustig.
Störrisch schüttelt sie ihren Kopf. »Warum musst ausgerechnet du das machen, können sie nicht jemand anderen schicken?«
»Ich muss einspringen.« Das klingt so kleinlaut, wie ich mich fühle. »Influenzazeit.«
»Wie gut«, entgegnet Lili ungewohnt schlagfertig, »dass du gegen Grippe geimpft bist.«
»Wenn ich zurück bin, lade ich dich ins Kino ein«, sage ich schwach.
Sie nickt und wirft ärgerlich die Autotür hinter sich ins Schloss. Ich kann es ihr nicht verdenken.
Die nächsten zwei Tage verlasse ich meine Wohnung nicht. Ich nutze die Zeit, um Papierstapel auf meinem Schreibtisch zu durchforsten, Rechnungen zu schreiben und auf fällige Geldüberweisungen zu reagieren. Nicht zu übersehen ist der Korb mit Schmutzwäsche, außerdem warten ein Bügelbrett mit zerknitterten Blusen und eine Geschirrspüle zum Ausräumen und Einfüllen. Vieles ist liegen geblieben, denn mein Job lässt mir kaum Zeit für den alltäglichen Kram. Die Zeitungen, für die ich arbeite, schicken mich ohne lange Vorankündigung los. Als freie Mitarbeiterin wetteifere ich schon seit dem Abschluss meiner Ausbildung mit meinen ebenfalls freiberuflich fotografierenden Kollegen. Und dieser Kampf ist nicht immer erbaulich. Er fordert enormes Durchsetzungsvermögen, das nicht selten an Rücksichtslosigkeit grenzt. Bisher sind drei meiner Fotos in großen Wettbewerben prämiert worden, und manchmal überlege ich, mich gänzlich auf das Künstlerische zu verlegen, aber mit meiner Schwester kann ich darüber nicht reden. Sie empfindet schon meine unregelmäßige Tätigkeit auf Honorarbasis als schwerwiegende wirtschaftliche Bedrohung, obwohl ich mehr verdiene als sie. Für Lili zählt nur der sichere Hafen einer festen Anstellung.
Sobald es dunkel wird, mache ich es mir vor dem Fernseher gemütlich und fühle mich so, wie ich mir vorstelle, dass es Lili an den meisten Abenden geht. Meine Füße stecken in dicken Socken, und auf meinem Bauch glüht eine Wärmflasche. Die Serie, die ich mir ansehe, spielt in Großbritannien und handelt von der dramatischen Geschichte einer Adelsfamilie. Lilis Kaliber. Als erst die jüngste Tochter und dann auch noch der Schlosshund stirbt, verdrücke ich ein paar Tränen.
So lümmle ich in ausgeleierten Jogginghosen und labbrigem Sweater entspannt auf dem Sofa, als es an der Tür klopft. Obwohl ich keine Lust auf Besuch habe, die Serie fesselt mich mehr, als ich es mir eingestehe, öffne ich, um gleich darauf grob in mein Vorzimmer gedrängt zu werden.
»Was fällt euch ein, zu verschwinden? Wollt ihr mich für blöd verkaufen?«
»Paul«, stammle ich.
Auf seinem Bart glitzern Schneeflocken, und seine Augen funkeln. »Mehr hast du nicht zu sagen?«
Schon sitzt er auf meinem Sofa, schiebt die Kissen beiseite und klopft neben sich auf das Polster, so als würde er hierhergehören und ich wäre sein Gast.
Ich versuche, das Beste aus der Situation zu machen, und biete ihm ein Bier an.
Verneinend schüttelt er den Kopf. »Ich warte auf eine Erklärung.«
»Wir mussten los. Ich bekam einen Auftrag«, lüge ich. Paul weiß, womit ich mein Geld verdiene.
»Vom Geheimdienst Ihrer Majestät?«
Es ist wohl so eine Art James-Bond-Spiel, auf das ich einsteigen soll. Aber darauf möchte ich mich nicht einlassen, ich möchte, dass er verschwindet. Sofort. Also vermeide ich Blickkontakt, schaue an ihm vorbei und fixiere angestrengt ein Buch im Regal.
Paul nimmt mein Gesicht in seine Hände und dreht es so, dass ich ihn ansehen muss. »Wie es scheint, ist es doch keine Spionage in gefährlichen fremden Ländern. Bloß eine Fotosession von deinem trauten Heim? Wie langweilig.« Sein Grinsen ist anzüglich.
Er mustert mich eine Weile und zieht mir dann mit einem Ruck den Sweater über den Kopf.
Er bleibt bis spät in die Nacht. Obwohl er den Grund für meine überstürzte Abreise längst erraten hat, erwähnen wir Lili mit keinem Wort.
Als er geht, öffne ich alle Fenster, bis es eiskalt in der Wohnung ist.
Ich beginne zu weinen und kann lange nicht aufhören.
LILI
Mit einem Mal steht er vor mir, eine langstielige Rose zwischen den Zähnen. Er erinnert mich an den Tiger aus der Benzinwerbung, nur sein Grinsen ist breiter.
Julia wirft mir einen erstaunten Blick zu. »Kennst du den?« Sie stutzt. »Ist er das?« Bewunderung schwingt nun in ihren Worten mit.
Ich spüre Hitze in meinen Wangen. Wahrscheinlich sind sie ebenso rot wie die Blüte, die von den gebleckten Zähnen gehalten wird. Mit einer verlegenen Handbewegung wehre ich meine neugierige Kollegin ab und sehe erleichtert, wie sie hinter einer der Regalreihen