Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele
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Читать онлайн книгу Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele страница 13
Seit unserer überstürzten Abreise bin ich sauer auf meine Schwester. Keine Frage, Arbeit geht vor, aber das ist es nicht. Sondern die Art, wie sie es mir beibrachte. Das nehme ich ihr übel. Zuerst die Ansage, einen ganzen Tag mit mir allein verbringen zu wollen, als müsse ich dafür dankbar sein, und dann auf einmal ihre Erklärung, nun abrupt aufbrechen zu müssen. Ganz konnte ich ihr den überraschenden Auftrag als Grund dafür nicht abnehmen.
Wann will sie denn davon erfahren haben?
Es hätte vor unserem gemeinsamen Frühstück auf dem Zimmer gewesen sein müssen – denn danach hat ihr Telefon nicht mehr geklingelt.
Ich kenne Anne gut genug, um zu merken, wenn etwas nicht stimmt. Meine Schwester konnte mir während der Heimfahrt nicht in die Augen sehen und redete in einem fort auf mich ein. Erst als sie meine verschlossene Miene bemerkte, hielt sie den Mund. Doch wieder einmal war ich zu schwach, sie darauf anzusprechen, zu schwach, sie so lange zu hinterfragen, bis ihr nichts anderes übrig bliebe, als mir die Wahrheit zu sagen.
Erst zu Hause fasste ich endlich Mut, doch ihr Handy war ausgeschaltet. Seither haben wir weder miteinander gesprochen noch uns getroffen.
Wenn ich mich aber schon über Anne geärgert habe, so war das nichts im Vergleich zu meinem Ärger über mich selbst. Ich hatte weder Pauls Handynummer noch seine E-Mail-Adresse. Und um im Hotel anzurufen und danach zu fragen, dafür bin ich nicht die Richtige.
Immerhin, auch er hätte sich melden können, aber zwei Wochen lang hörte ich nichts von ihm.
Umso erstaunter bin ich jetzt über den auf eine Reaktion von mir wartenden Tiger mit der Rose im Maul. Ich bringe kein Wort heraus, frage mich nur verzweifelt, weshalb ich ausgerechnet heute meine ältesten Jeans trage. Warum das verwaschene T-Shirt unter dem beigen Pulli und warum die alten, ausgelatschten Stiefel, die ich schon letzten Winter entsorgen wollte?
Zu allem Überfluss sind meine Haare in einen flauschigen Stoffgummi gezwängt, und Schminken war heute Morgen auch nicht drin. Ich hatte verschlafen, daher sind meine Wimpern so wenig getuscht wie meine Lippen mit Gloss bepinselt. Gerade mal unter die Dusche hatte ich es geschafft.
Langsam öffnet Paul seine Lippen, nimmt die Rose und streckt sie mir zaghaft entgegen. »Lili, bitte verzeih mir, dass ich mich erst jetzt melde. Man hat mich auf eine Schulung geschickt. Ich bin erst seit gestern wieder in der Stadt.«
»Du musst nichts erklären«, sage ich und denke dabei, wie prächtig doch das Rot der duftenden Knospe mit dem bronzenen Farbton seines Vollbartes harmoniert.
Kurz blitzt Julias akkurat geschnittener Haarschopf über dem Bücherregal auf. Sie muss die Leiter hochgeklettert sein, um uns besser beobachten zu können. Ein Tiger mit Rose im Maul ist eben ungewöhnlich.
»Lili?«
Wie beschämt seine Stimme klingt.
»Ja«, sage ich und nehme die Blume entgegen. Verlegen drehe ich den Stiel zwischen Zeigefinger und Daumen.
So etwas wie Erleichterung zeichnet sich auf seinen Zügen ab. »Lass uns etwas trinken gehen, uns unterhalten.«
»Macht das.« Julias Tonfall duldet keinen Widerspruch. Sie deutet in Richtung Tür. »Ab mit euch beiden.«
Ich muss grinsen, und auch Paul lächelt breit.
Als wir uns im Café gegenübersitzen, nimmt Paul meine Hand. Prompt beginnt mein Herz wieder stürmisch zu klopfen.
»Lili, wie schön, dich wiederzusehen.«
»Paul. Es war nicht okay, ohne ein Wort abzuhauen. Das ist nicht meine Art …«, beginne ich zu erklären, doch er wehrt ab.
Zärtlich streicht er eine Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, hinter mein Ohr. »Lass nur. So konnte ich begreifen, was unsere Begegnung in mir ausgelöst hat. Du glaubst nicht, wie sehr ich dich vermisst habe.«
»Es ging mir ähnlich«, sage ich stockend. »Wie hast du mich gefunden?«
»Dazu muss man weder Detektiv noch Geheimagent sein.« Er lacht unbeschwert und trinkt seinen Espresso. »Weißt du nicht mehr, du hast mir an jenem Abend von den Büchern erzählt, über die du wachst.«
»Natürlich.« Wahrscheinlich hatte ich das, auch wenn ich mich daran nicht erinnern kann. »Anne«, beginne ich, aber wieder unterbricht er mich bestimmt.
»Anne ist kein Thema. Du bist hier, nur das zählt.«
»Warte.« Ich versuche mich nicht ablenken zu lassen. »Meine Schwester musste einen Foto-Job übernehmen. Nur deshalb verließen wir so kurzfristig das Hotel.«
Fast unwillig winkt er ab. Dann tastet er nach meiner Hand. »Ich konnte es kaum erwarten, dich wiederzusehen.«
Meine Finger sind so kalt wie meine Wangen heiß sind.
»Es ist romantisch, mit einer Blume im Mund in der Bibliothek aufzutauchen.« Meine Stimme klingt rau.
»Als du mich bemerkt hast, habe ich deine Augen aufleuchten sehen.« Er lacht und sieht mich liebevoll an. »Deine Chefin ist vor Neugier fast von der Leiter gefallen.«
»Julia ist nicht meine Chefin, sie ist meine Kollegin und Freundin. Aber sie benimmt sich manchmal so, als wäre sie meine Mutter.«
Wieder lacht Paul, und ich lache mit.
»Lass uns Wein bestellen«, sagt er, und ich spüre, wie seine Finger sanft über meine Hand streichen.
An diesem Abend begleitet Paul mich nach Hause.
Es hat leicht zu schneien begonnen, und ein kalter Wind fegt durch die Gassen, doch anstatt zu frieren, erfüllt mich wohlige Wärme. Ich habe mich bei ihm untergehakt und kann es noch gar nicht fassen, neben ihm zu spazieren.
Vor der Tür zu meiner Wohnung bleiben wir stehen. Ich fühle mich wie ein Schulmädchen beim ersten Rendezvous.
»Willst du noch mit hereinkommen?«
»Unseren Schlummertrunk hatten wir schon«, neckt er mich. »Die schönen Dinge soll man sorgsam genießen, sich darauf freuen. Was man gleich bekommt, ist nichts wert.«
Er drückt mir einen trockenen Kuss auf den Mund, klopft den Schnee von seinem Mantel und geht.
Lange noch blicke ich auf die glitzernden Schneekristalle, die seltsame Muster auf meiner Fußmatte bilden. Ein wenig irritieren mich seine Worte, aber was wiegen sie gegen das verloren geglaubte Glück, das sich mir so unverhofft wieder in den Schoß gelegt hat?
Kaum betrete ich einige Tage später die Bibliothek, stürzt Julia auf mich zu. Ihr kinnlanges dunkles Haar schwingt um ihr Gesicht, die Wangen sind rosig.
»Lili!« Ihre helle Stimme überschlägt sich. »Ich muss dir etwas geben. Er hat ein Paket für dich gebracht. Schau nur.«
»Er?«
»Ja, er! Dein Paul. Gestern am späten Nachmittag war er hier, als du beim Zahnarzt warst.« Schon