Moderner Fundamentalismus. Stefan Breuer
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Der moralische Fundamentalismus besteht indes nicht nur aus einer Verabsolutierung der Moral. Er impliziert zugleich eine Absage an die zentralen Tendenzen der Zeit, die funktionale Differenzierung und die formale Rationalisierung. Davon kann bei der Gironde keine Rede sein, die sich politisch und sozial auf das gemäßigte Bürgertum stützt, für die Wirtschaftsfreiheit eintritt und den radikalen Egalitarismus der Sansculotten zurückweist (Furet/Ozouf 1996, 596). Ebensowenig trifft es auf die Montagne zu, die zwar zu Konzessionen an diesen Egalitarismus bereit ist, unter dem Druck der Umstände auch die staatlichen Kompetenzen weiter ausdehnt, als es mit dem Prinzip der funktionalen Differenzierung vereinbar ist, die sich aber nichtsdestoweniger unzweideutig auf die Seite des ‚Fortschritts‘ stellt. „Die Welt hat sich geändert“, ruft Robespierre am 7.Mai 1794 den Delegierten des Nationalkonvents zu, „und sie muß sich noch weiter ändern. Was gibt es gemeinsames zwischen dem, was ist, und dem, was war? Auf die Wilden, die in der Wüste herumirrten, folgten die zivilisierten Völker; reich geernet wird heute dort, wo früher Urwälder die Erde bedeckten“. Robespierre feiert die großen Entdeckungsfahrten, die Erfindungen der Buchdruckerkunst, die Leistungen Newtons, die erstaunlichen Fortschritte der Künste und Wissenschaften, und er fügt hinzu: „In der physischen Ordnung hat sich alles gewandelt; auch in der moralischen und politischen Ordnung muß sich alles wandeln. In der einen Hälfte der Welt ist die Revolution bereits vollzogen; auch in der anderen Hälfte muß sie vollendet werden“ (Robespierre 1989, 655 f.). Mit den Positionen Rousseaus, der die Fortschritte der Künste und Wissenschaften skeptisch beurteilte, mit der Ansicht des Kalifen Omar hinsichtlich der Verbrennung der Bibliotheken sympathisierte und eher für eine Reduzierung der zwischenstaatlichen Kontakte und Reisen eintrat, war dies alles nicht zu vereinbaren, wie auch der entschiedene Progressismus einem Autor anathema sein mußte, dessen größter Wunsch die Verlangsamung war (Fetscher 1975, 291 f.).
Besser aufgehoben erscheint dieser Wunsch dagegen auf den ersten Blick bei den Sansculotten, jener in so vielem an die antike Plebs oder den popolo minuto der mittelalterlichen Städte erinnernden Volksbewegung, die im Juni 1793 durch ihre Intervention den Sturz der konstitutionellen Monarchie und das Ende des girondistischen Regimes erzwingt. Anknüpfend an die Protestrituale des Ancien Régime, fixiert auf die dort übliche paternalistische Preisfestsetzung und Produktionsreglementierung, zugleich aber auch virtuos die neuen Formen politischer Öffentlichkeit nutzend, die mit der Revolution entstanden sind, streben die Sansculotten danach, das Prinzip der Brüderlichkeit auf den wirtschaftlichen Bereich auszudehnen. Auch wenn sie sich von Rousseau in ihrem Aktivismus wie ihrem Verständnis von Repräsentation unterscheiden (Fetscher 1975, 302; Furet/Ozouf 1996, 1317 f.), verlangen sie wie dieser eine association politique, die bestimmt ist durch la conservation et la prosperité de ses membres (CS 95/419 f.), eine Gesellschaft also, in der die Eigentümer Eigentümer bleiben und sich nicht in Besitzende und Nichtbesitzende spalten.
In diesem Sinne fordert Varlet einen Gesellschaftsvertrag, der besonders auf die Verteidigung der Schwachen gegen die Mächtigen gerichtet sei. Das Recht auf Grundbesitz habe seine Schranken an der Gesellschaft; es sei der natürlichste Wunsch der Bedürftigen, daß man sie vor dem Druck der Reichen schütze, indem man habgierige Ambitionen begrenze und mithilfe gerechter Maßnahmen die enorme Ungleichheit der Vermögen beseitige (Rose 1965, 90). Ähnlich äußert sich ein anderer Wortführer der Sansculotten, der Enragé Leclerc, dessen Blatt nach der Ermordung Marats den Titel Ami du Peuple weiterführt. Alle Menschen, verkündet er, hätten ein gleiches Recht auf Nahrung und auf alle Produkte des Landes, die für die Aufrechterhaltung ihrer Existenz unentbehrlich seien (ebd., 89 f.). Das Manifest der Enragés, das am 27. Juni 1793 von der Versammlung der Cordeliers akzeptiert wird, verkündet:
„Die Freiheit ist ein leerer Wahn, solange eine Menschenklasse die andere ungestraft aushungern kann. Die Gleichheit ist ein leerer Wahn, solange der Reiche mit dem Monopol das Recht über Leben und Tod seiner Mitmenschen ausübt. Die Republik ist ein leerer Wahn, solange Tag für Tag die Konterrevolution am Werk ist, mit Warenpreisen, die drei Viertel der Bürger nur unter Tränen aufbringen können“ (Roux 1985, 147).
Es ist hier nicht der Ort, die Umsetzung dieser Forderungen zu verfolgen. Wichtiger ist es, festzuhalten, daß wir es auch in diesem Fall noch nicht mit einem Fundamentalismus sensu stricto zu tun haben. Dies nicht so sehr deswegen, weil die Brüderlichkeitsethik keineswegs so weit geht, die Prinzipien des Eigentums und der privaten Dispositionsfreiheit in Frage zu stellen (was im übrigen schon für Rousseau zutrifft), als vielmehr deswegen, weil die Einstellung der Sansculotten gegenüber dem ‚Fortschritt‘ alles andere als ablehnend ist.
Jacques Roux, während der Septembermorde Vorsitzender der Sektion Gravilliers und danach einer der beiden von der Commune beauftragten Kommissare, die die Hinrichtung des Königs beaufsichtigen, läßt in keiner seiner Reden und Schriften auch nur den geringsten Zweifel daran, daß er die Revolution „den großen Fortschritten“ zurechnet, „die die Wissenschaften im Denken des Volkes bewirkt haben“ (ebd., 41). Für ihn kommt die Revolution einer Befreiung aller produktiven Kräfte und Talente des Volkes aus den engen Fesseln gleich, in denen sie bislang durch die Ordnung des Privilegs gehalten worden sind. Zutiefst verderbte Menschen hätten den Grund und Boden, die Manufakturen, den Handel, das Handwerk verschlungen, dem Bürger das Blut ausgesaugt und den Armen die Arbeitsmöglichkeit genommen; die Aufgabe sei es, diese Hindernisse zu beseitigen, die produktiven Kräfte zu ermutigen und es dem Armen zu ermöglichen, „daß er sich bis zu den höchsten Gefilden der Wissenschaften und Künste erhebt“ (ebd., 83). Zwischen den Begabungen sei ein ehrenhafter Wettstreit zu eröffnen, der sie befähigen werde, „das große Gemälde der Menschennatur, der Religionen, der Sitten der verschiedenen Völker, der mächtigen Kräfte zur Ermutigung der Wissenschaften und Künste zu erkennen; in einem Wort alles, was in Bezug steht zum Fortschritt der technischen Erfindungen, zum Gedeih des Handels, zu sämtlichen Entdeckungen des Angenehmen und des Nützlichen“ (ebd., 119). Nicht die Kritik des Fortschritts ist das Anliegen dieser Bewegung, sondern die Inbesitznahme und Vergesellschaftung seiner Errungenschaften:
„Besitzt der Mensch erst einmal das Ganze der Wissenschaften und Künste, kommen öffentliche Werkstätten und Wohlfahrtseinrichtungen der Bedürftigkeit zu Hilfe, ist er glücklich über das Glück der anderen; er verteidigt die Schutzwälle der Moral und der Gesetze, er verschwört sich gegen die Laster, er ist mit Tugend gewappnet, er ist gut und reich wie die Natur; die Gerechtigkeit hat ihre Verteidigung und die Freiheit ihre Altäre!“ (ebd., 119).
Man kann es auch so ausdrücken: Es sind die Wurzeln der modernen Sozialdemokratie, vor denen man hier steht, nicht die des modernen Fundamentalismus. Wer sich für diese letzteren interessiert, muß noch einen Schritt weiter gehen, bis zum äußersten Rand der Revolution, zu Babeuf und der ‚Verschwörung der Gleichen‘.
V.
Babeuf für den Fundamentalismus zu reklamieren, heißt freilich: seine monopolistische Inanspruchnahme durch den Neojakobinismus und den marxistischen Sozialismus/Kommunismus zurückzuweisen. Diese Inanspruchnahme kann natürlich manche Gründe vorbringen. Im einen Fall kann sie die Selbsteinschätzung Babeufs anführen, der sich bis auf eine kurze Phase während der Terreur als treuen Parteigänger Robespierres als des herausragenden Vorkämpfers der sozialen wie der politischen Gleichheit versteht (Mathiez 1988, 220 ff.). Seine Bedenken gegen das Mittel der Diktatur, die ihn zeitweise auf Distanz zu den Jakobinern gehen lassen, schiebt Babeuf 1796 beiseite, als er sich zum entschiedenen Anwalt einer Erneuerung des robespierrisme macht. Das Regime des Wohlfahrtsausschusses erscheint ihm nun als diablement bien imaginé, die brutale Gewaltanwendung gegen die politischen Gegner als vollauf berechtigt. Der Erneuerer (régénérateur) müsse in großen Maßstäben denken. Er müsse alles