Moderner Fundamentalismus. Stefan Breuer
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Rousseaus Haltung in dieser Frage ist ambivalent. Auf der einen Seite ist er Realist genug, um einzusehen, daß in entwickelten Großstaaten wie Frankreich die Chancen für eine Verwirklichung des Gesellschaftsvertrags nicht mehr gegeben sind und auch durch politische Eingriffe nicht wiederhergestellt werden können. Die menschliche Natur, schreibt er in einer späten Verteidigungsschrift, gehe nicht wieder zurück und niemals kehre man in die Zeiten der Unschuld und Gleichheit heim, wenn man sich einmal von ihnen entfernt habe. Es sei daher nie seine Absicht gewesen, zahlreiche Völker und große Staaten zu ihrer ursprünglichen Einfalt zurückzuführen, sondern lediglich, den Fortschritt derer aufzuhalten, deren Kleinheit und Lage dies noch ermögliche (Rousseau 1978, Bd. II, 569 f.). ‚Konservativ‘ ist dies nur dann, wenn man diesen Begriff in einem rein formalen Sinne versteht. Auf jeden Fall ist es eine Barriere gegen fundamentalistische Intentionen, da es darauf verzichtet, das Gestaltungspotential der Moral gegen den Status quo zu mobilisieren.
Auf der anderen Seite hält Rousseau unter bestimmten Bedingungen den Gesellschaftsvertrag doch für möglich. In Frage dafür kommen einmal die erwähnten Gemeinwesen, die über die erforderlichen Bedingungen der Kleinheit und der Lage verfügen – die Bauern des Wallis, die montagnons in der Nähe von Neuchâtel, Städte wie Genf oder eine Insel wie Korsika, das Rousseau schon im Contrat Social als das einzige Land in Europa bezeichnet, das noch einer guten Gesetzgebung fähig sei (CS 58/391). Für die Korsen, die ‚noch fast im Naturzustand leben und gesund sind‘, schreibt er 1765, aufgefordert von korsischen Patrioten, das Projet de la Constitution pour la Corse, in dem er die Grundideen des Gesellschaftsvertrags zum Verfassungsmodell einer agrarischen Demokratie konkretisiert, das alle negativen Tendenzen der Moderne eliminiert: Großgrundbesitz, Handel, Luxus, Konkurrenz, Mobilität, Herrschaft der Stadt über das Land (Rousseau 1981, 509 ff./901 ff.).
Im Unterschied zu diesen Beispielen bezieht sich Rousseaus Schrift über die Regierung Polens auf ein Land, das bereits sehr weit von der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit entfernt ist. Es handelt sich um einen großen Flächenstaat mit starker Polarisierung zwischen arm und reich, ausgeprägten Herrschaftsbeziehungen bis hin zur Leibeigenschaft sowie einer Anarchie, wie sie für das Auflösungsstadium des Naturzustands charakteristisch ist. Rousseaus Empfehlungen kommt deshalb eine Bedeutung zu, die weit über seine sonstigen, eher ‚katechontischen‘ Ratschläge hinausgeht. Der polnische Staat soll in seinem Umfang erheblich reduziert und in eine Föderation kleinerer Staaten verwandelt werden. Das ökonomische System soll auf den Primat der Landwirtschaft ausgerichtet und so organisiert werden, daß möglichst wenig Geld gebraucht wird. Die Verwaltung soll vereinfacht werden, indem man die Beamtenbesoldung auf Naturaldeputate umstellt, die nötigen Infrastrukturmaßnahmen über Frondienste abwickelt und die staatlichen Geldleistungen minimiert. In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag, das stehende Heer abzuschaffen und die Verteidigungsaufgaben einer Miliz zu übertragen.
Um die soziale Kohäsion zu sichern, soll der Abbau der Organisationen durch einen Ausbau des Erziehungswesens und eine Aktivierung des Patriotismus kompensiert werden. Rousseau propagiert eine Pädagogik, die ihre Objekte in permanenter Bewegung hält; eine ebenso permanente Mobilmachung der Bürger für die Sache des Vaterlandes in öffentlichen Festen, Kulten und Zeremonien; die rigorose Verbannung aller Zerstreuungen; die Etablierung gesellschaftlich verbindlicher Formen der Ächtung; und die Einschwörung der Bürger auf jene religion civile, für deren Verletzung schon der Contrat Social die drakonischsten Strafen vorsieht (CS 156/468). Und wie auch anders: Wenn der allgemeinste Wille immer der gerechteste und die Stimme des Volkes die Stimme Gottes ist (EP 232/246), kann, wer ihr nicht folgt, nur ein Teufel sein. Und gegen Teufel ist das härteste Mittel gerade recht.
Der moralische Fundamentalismus, das zeigen Rousseaus Vorschläge überaus deutlich, zielt nicht auf die Fundamente der schlechten Vergesellschaftung. Es gehe nicht darum, heißt es in der Korsika-Schrift, das Privateigentum völlig aufzuheben, sondern nur darum, es zu bändigen und dem öffentlichen Wohl unterzuordnen (Rousseau 1981, 541/931). Ebensowenig, präzisiert die Polen-Schrift, sei geplant, die Geldzirkulation zu unterdrücken; sie solle nur verlangsamt und von den polarisierenden Wirkungen auf die Sozialstruktur abgekoppelt werden (ebd., 621/1007 f.). Das Mittel für diese Zähmung der Wirtschaft ist die Hypertrophie der Moral: die öffentliche Belobigung der Gutmenschen durch Zensur- und Wohltätigkeitsausschüsse, die zu permanenter Buchführung über ihre Untertanen aufgefordert werden, die Manipulation der Meinungen, die – zwar nicht explizit geforderte, aber implizit in Kauf genommene – Diskreditierung derjenigen, die es an Einsatz fehlen lassen (ebd., 638/1025). Hobbes hatte sich noch damit begnügt, lediglich die Handlungen der Menschen durch den Leviathan kontrollieren zu lassen. Rousseau dagegen weiß, daß ein moralischer Staat auch auf das Innere Zugriff nehmen muß:
„Wenn es gut ist, zu wissen, wie man sich der Menschen, so wie sie sind, bedienen soll, so ist es noch weit besser, sie so zu bilden, wie man sie nötig hat. Die uneingeschränkteste gesetzmäßige Macht ist diejenige, welche bis in das Innerste des Menschen dringt und nicht weniger auf den Willen als auf die Handlungen einwirkt. Es ist gewiß, daß die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht“ (EP 237 f./251).
IV.
Ein von derart tiefen Ambivalenzen und Widersprüchen geprägtes Werk wie dasjenige Rousseaus kann nicht als Ganzes wirken; und so ist es denn auch nicht überraschend, daß die Rezeptionsgeschichte vor allem eine Geschichte der Vereinseitigungen Rousseaus ist. In der einschlägigen Literatur begegnet man einem Rousseau constitutionel ebenso wie einem Rousseau aristocrate, einem Rousseau girondiste ebenso wie einem Rousseau montagnarde, nicht zu reden vom Rousseau der Liberalen, der Sansculotten, der Sozialisten … (Barny 1977; Furet/Ozouf 1996, 1308 ff.).
Wo aber ist der moralische Fundamentalismus geblieben, der sich in Rousseaus Schriften so deutlich abzeichnet, auch wenn er sie nicht vollständig ausfüllt? Die Frage wäre leicht zu beantworten, wenn man sich nur an die Hypertrophie der Moral halten müßte. Ihr begegnet man auf Schritt und Tritt, zumal beim republikanischen Radikalismus, der 1792 die politische Macht erobert. Ganz im Sinne Rousseaus, der die privaten Tugenden der Güte, Empfindsamkeit und Milde mit der öffentlichen Tugend zu einer untrennbaren Einheit verschmilzt (Furet/Ozouf 1996, 1327), betreibt dieser Radikalismus eine umfassende Moralisierung der Politik, die keinen Bereich ausgespart läßt. „Um ein anständiger Mann zu sein“, erklärt der französische Republikaner dem Bürger von Philadelphia, „muß man ein guter Sohn, ein guter Ehemann und guter Vater sein, in einem Wort, alle öffentlichen und privaten Tugenden vereinen (…), erst dann wird man die wahre Definition des Wortes Patriotismus erhalten“ (ebd., 653). Politik wird zum Medium der Pädagogik. Im Dezember 1791 fordert der Girondist Brissot, ein repräsentativer Vertreter des ‚Gossen-Rousseauismus‘ (Robert Darnton), den Krieg, um „unsere Revolution moralisch zu machen und zu konsolidieren“ (Fischer 1974, 144); Robespierre ruft „alle Tugenden und alle Wunder der Republik gegen alle Laster und alle Lächerlichkeiten der Monarchie“ auf und erklärt die Tugend zum „grundlegende(n) Prinzip der demokratischen Regierung oder der Volksregierung“ (Robespierre 1989, 585 ff.). Die Sektion Bonne-Nouvelle richtet „einen Kursus der Moral und der Vernunft“ ein; die Volksgesellschaft Lazowski eröffnet eine „Moralschule für die jungen Bürger“. „Auf der einen Seite vernichten Unwissenheit und Fanatismus die Früchte von vier Jahren voller Kämpfe und Opfer“, heißt es am 16. Juni 1793 in der Vollversammlung der Sektion Amis-de-la-Patrie, „auf der anderen Seite zerstreuen Unterricht und Aufklärung die Vorurteile und lassen uns eine Revolution lieben, die ihre unzerstörbare Grundlage nur in der Tugend haben kann“ (Soboul 1978, 117, 114).
Und was Unterricht und Aufklärung nicht besorgen, erreicht die permanente wechselseitige Überwachung der Bürger, die diese Republik zu ihrem obersten Anliegen macht. Das Gesetz vom 22. Prairial erklärt alle diejenigen zu Volksfeinden, die die Sitten verderben, die Tatkraft und Reinheit der republikanischen