Moderner Fundamentalismus. Stefan Breuer
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Der überzeugendste Vorschlag hierzu kommt von der an Max Weber orientierten Religionssoziologie. Nach Martin Riesebrodt handelt es sich beim Fundamentalismus um ein vor allem in Heilsund Erlösungsreligionen vorkommendes Phänomen, das immer dann entsteht, wenn die überlieferte, religiös verbürgte Ordnung bedroht wird: wobei diese Bedrohung nicht unbedingt in der Form provokativer Abwertungen traditioneller Werte auftreten muß, vielmehr schon dadurch gegeben ist, daß durch die Prozesse der Rationalisierung und funktionalen Differenzierung das religiöse Weltbild in Frage gestellt, die religiös verankerte Moral relativiert und die Religion insgesamt aus der Öffentlichkeit verdrängt und privatisiert wird. In einer solchen Lage ist es wahrscheinlich, daß es zu einer „Reinterpretation der religiösen Tradition“ kommt, die diese einseitig auf eine „weltablehnende Haltung“ festlegt (Riesebrodt 1990, 2, 11, 20 f., 27).
Man mag dieser Sichtweise entgegenhalten, daß Weltablehnung, auch und gerade bei Max Weber, ein typisches Merkmal aller Erlösungsreligionen sei, so daß Fundamentalismus wiederum nur ein anderes Wort für eine religiöse Grundeinstellung wäre. Und bis zu einem gewissen Grad ist dies auch zutreffend: das frühe Christentum und der frühe Buddhismus sind in der Tat Religionen, die sich in ihrer negativen Haltung zur Welt schwerlich überbieten lassen. Dennoch hat es Max Weber aus guten Gründen vermieden, in der Weltablehnung das Wesensmerkmal der Erlösungsreligionen zu sehen. Er hat statt dessen wesentlich vager von ‚Spannung gegen die Welt‘ gesprochen und darauf bestanden, daß diese Spannung ein ganzes Spektrum von möglichen Weltverhältnissen zuläßt, je nachdem, wie groß der Anteil des Ritualismus, der intellektuellen Systematisierung und der gesinnungsethischen Verinnerlichung ist, wie stark die charismatischen Einschläge oder die Ansätze zu einer ‚organischen‘ Ethik sind (Weber 1976, 348 f., 709, 360; ders. 1972, 551). Wenn aber Erlösungsreligionen nicht eindeutig und pauschal als weltablehnend charakterisiert werden können, vielmehr stets durch eine komplexe Gemengelage weltverneinender und weltbejahender Tendenzen gekennzeichnet sind (Kippenberg 1991, 440 ff.), dann ist es durchaus ein Gewinn an definitorischer Präzision, die Verengung auf Weltablehnung mit einem speziellen Terminus zu belegen – eben dem des Fundamentalismus. Womit zugleich angedeutet ist, daß Fundamentalismus nicht bloß ein Phänomen der jüngsten Gegenwart ist, sondern eine religionsgeschichtliche Erscheinung, mit der immer dann zu rechnen ist, wenn die ‚Depotenzierung der Religion‘ (Tyrell 1993) durch kognitive Rationalisierung und strukturelle Pluralisierung eine bestimmte Schwelle überschreitet.
II.
Mit diesem begrifflichen Rüstzeug läßt sich der Fundamentalismus sans phrase erfassen, und damit auch: der Fundamentalismus in der Moderne: jener mobilisierte und radikalisierte Traditionalismus, der die Religion aus dem Zustand der Depotenzierung herauszuführen und ihr den ursprünglichen Rang wiederzugeben bestrebt ist – durch Depotenzierung und virtuell Eliminierung aller nichtreligiösen, ‚profanen‘ Orientierungen und Institutionen. Martin Riesebrodt hat dies in seiner vergleichenden Studie über den fundamentalistischen Protestantismus in den USA und die iranische Schia eindrucksvoll demonstriert. Was aber ist demgegenüber unter modernem Fundamentalismus zu verstehen?
Doch wohl zunächst und vor allem dies: eine Erscheinung, die den Grundtatbeständen der Moderne Rechnung trägt. Die beiden wichtigsten sind, nach dem Befund der modernen Soziologie, die funktionale Differenzierung, in deren Gefolge die Religion aus dem Rang einer führenden Lebensmacht zu einer Lebensordnung neben anderen herabsinkt (der Politik, der Wirtschaft, der Kunst etc.), und die Umstrukturierung der so entstandenen Handlungsfelder nach den Maßgaben formaler Rationalität, die durchweg ohne den Bezug auf religiöse Transzendenz auskommen. Moderner Fundamentalismus im Unterschied zum genuinen, religiösen Fundamentalismus müßte eine Erscheinung sein, die zwar auf Erwartungs- und Handlungsmustern aufruht, wie wir sie aus der religiösen Lebensordnung kennen, gleichwohl an andere Handlungsfelder als das religiöse anknüpft und mit rein innerweltlichen Maßstäben operiert.
Wichtige Hinweise in dieser Richtung lassen sich wiederum der Soziologie Max Webers entnehmen. Ihr zufolge kann sich mit zunehmender Disprivilegierung der Religion das von ihr monopolisierte Erlösungswissen verselbständigen und auf andere Handlungsfelder verlagern, die den Sinnbedarf mit rein innerweltlichen Mitteln befriedigen (vgl. Weber 1976, 299). Von Fundamentalismus allerdings sollte man in diesem Fall erst dann sprechen, wenn auch das zweite Begriffsmerkmal – die Weltablehnung – in wie immer gearteter Form noch gegeben ist. Innerweltliche Erlösungskonzepte, die sich an eine ideologische Verklärung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts heften, fallen nicht in diese Kategorie, weil sie die Welt nicht ablehnen, sondern lediglich verbessern wollen, wie dies etwa (aber keineswegs allein) für die „sozialistische Eschatologie“ mit ihrer „fast superstitiösen Verklärung der ‚Wissenschaft‘ als möglicher Produzentin oder doch als Prophetin der sozialen gewaltsamen oder friedlichen Revolution im Sinn der Erlösung von der Klassenherrschaft“ gilt (ebd., 313).
Eine Kombination von Erlösung und Weltablehnung ist dagegen erkennbar bei jenen „innerweltlichen Mächten des Lebens, deren Wesen von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakters ist“, vor allem der Kunst und der Erotik. Von der ausdifferenzierten, d.h. zu einem „Kosmos immer bewußter erfaßter selbständiger Eigenwerte“ gestalteten Kunst meint Weber, sie könne „die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus“ übernehmen und dadurch „in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion“ treten. In gleicher Weise könne die geschlechtliche Liebe „als eine Pforte zum irrationalsten und dabei realsten Lebenskern gegenüber den Mechanismen der Rationalisierung“ aufgefaßt und hierdurch zum Medium einer „innerweltlichen Erlösung vom Rationalen“ werden (Weber 1972, 554 ff.).
Es hieße diese Überlegungen allzu wörtlich nehmen, wollte man sie zu der Behauptung zuspitzen, Kunst und Erotik seien in der Moderne nur a- oder antirational. In seiner Musiksoziologie etwa oder in der Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie stellt Weber ganz im Gegenteil den hohen Rationalitätsgehalt der harmonischen Musik und anderer Eigentümlichkeiten der okzidentalen Kunst heraus (ebd., 2 f.). Gemeint ist nicht so sehr ein Wesenszug als ein Potential: Kunst und Erotik können zu Gegeninstanzen gegen die rationalen Ordnungen werden, sie können das Erbe der religiösen Erlösungsethik übernehmen und zu Trägern einer „antipolitischen“, „antiökonomischen“ oder auch „antiszientifischen“ Weltablehnung werden. Und nicht nur sie allein: hinzufügen kann man auch jene Ethiken, die sich von der Religion abgekoppelt haben und den Protest gegen die versachlichten Ordnungen von der Position einer rein innerweltlich begründeten Moral aus formulieren.
Von innerweltlicher Weltablehnung zu reden, ist freilich paradox. Da, wer sich auf Kunst, Erotik oder Moral beruft, zumindest diese Sphären bejahen muß, kann von genereller Weltablehnung nicht die Rede sein. Die Negation gilt denn auch zumeist, anders als bei der Erlösungsreligion, weniger der Welt als solcher als einem bestimmten Zustand derselben, der Form, die sie durch funktionale Differenzierung und formale Rationalisierung angenommen hat. Heinrich Heines Wort über Goethe als das „Genie der Zeitablehnung“ gibt hierfür die angemessene Bezeichnung: Weltablehnung ist im modernen Fundamentalismus zur Zeitablehnung geworden. Moderne Fundamentalisten wollen nicht, wie religiöse Fundamentalisten, aus der Welt heraus, in die unvordenkliche Gnade Gottes oder das Nirwana. Sie wollen aber in der Zeit zurück, in jenes Stadium, in dem es noch all das gibt, was sich in der Moderne zusehends verflüchtigt: Einheit, Ganzheit, Sinn, in dem die sozialen Beziehungen noch primär persönliche Beziehungen sind und nicht sachlich-rational3. Sie wollen dies entweder nur für den kleinen Kreis der Auserwählten, der Virtuosen, der perfecti, in welchem Fall man in Analogie