Mehr als ein Wunder. Steve de Shazer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Mehr als ein Wunder - Steve de Shazer страница 4

Mehr als ein Wunder - Steve de Shazer Systemische Therapie

Скачать книгу

(Insoo Kim Berg, Harry Korman, Terry Trepper und Eric McCollum, im Folgenden kurz ›das Team‹) die Idee eines lösungsfokussierten Dialogs als Kontrast und Alternative zum sokratischen Dialog, eine Alternative, die den in unserer Kultur in Erziehung und Bildung, in Schulen und Universitäten, in Therapie, Beratung und Training oft immer noch vorherrschenden Ansatz von Abrichtung (wie es Wittgenstein nannte) oder (bestenfalls) Pacing und Leading nicht nur durch einen viel weicheren, unauffälligeren und zurückhaltenderen ersetzt, sondern eine radikal und grundlegend andere Haltung zum Dialogpartner einführt.

      Wer Steve de Shazer kannte, weiß, auf welche Weisen er unauffällig zu sein verstand. Mir kam er manchmal vor wie einer der großen (und oft etwas ruppigen) taoistischen Weisen, von denen gesagt wurde, dass sie keine Spuren im Sand hinterließen.

      Doch darin erschöpft sich der Unterschied zum sokratischen Dialog nicht: Sokratischer Dialog ist erzieherisch, Steve war das nie. Im sokratischen Dialog wird der Gesprächspartner zu einem vorher bekannten Ziel hingelotst, im lösungsfokussierten Dialog erkundet der Gesprächspartner in dem weit offenen Raum Möglichkeiten, die ihm schon einmal zuvor, wenigstens in Fragmenten, zur Verfügung standen. (Daher ist eben auch die Wunderfrage bei jedem neuen Klienten eine neue Frage – und sogar bei jeder einzelnen Erwähnung des Wunders!)

       Wittgenstein als nachträgliches Fundament für Steve de Shazer

      Dieses Buch zeigt vielleicht klarer als irgendeines seiner früheren Werke die wirklich grundlegende Rolle der Philosophie Wittgensteins für Steve de Shazers Ideen zum Ansatz der lösungsfokussierten Kurztherapie.1 Wittgenstein wird hier nicht etwa als Steinbruch ge- oder missbraucht, aus dem sich jeder bei Bedarf ein passendes Fragment oder kleines Zitat herausbrechen kann, wie das heute in so vielen Texten der Fall ist.

      Die Haltung und die Grundidee seiner Philosophie kommen vielmehr im Denken und Handeln von Steve de Shazer und in der Praxis exzellenter lösungsfokussierter TherapeutInnen wie Insoo Kim Berg und dem Team so deutlich zum Vorschein, dass dies für einen interessierten und geschulten Beobachter wie Gale Miller (Becoming Miracle Workers) und für jemanden, der seit Jahrzehnten über Logik und Wittgenstein forscht (wie der Autor dieser Zeilen), zu einer wichtigen Quelle neuer Einsichten zu Wittgensteins Werk wurde; eine in der (modernen) Philosophie unübliche und wundersame Vertauschung der Rollen von Theorie und Praxis. Das Verhältnis wird hier ein wechselseitiges: Wittgenstein liefert nicht nur ein Fundament für die SFBT, sondern diese auch ein tieferes Wittgensteinverständnis.

      Dabei ist Wittgenstein nicht einfach die Grundlage von Steve de Shazers Ideen, da der lösungsfokussierte Ansatz zunächst weitgehend ohne Bezug zu Wittgenstein entstanden war (ähnlich ist de Shazers Verhältnis zu Derrida zu sehen), es sei denn, man greift die seltsame Idee eines nachträglichen Fundaments auf. Vielmehr war Steve wirklich glücklich, in Wittgenstein – endlich – jemanden gefunden zu haben, dessen Denken dem eigenen wirklich ähnelte.

      Für mich und meine Frau Insa Sparrer bildeten Abende mit nicht endenden Gesprächen seit den frühen Achtziger Jahren über den Ansatz der Schule von Milwaukee, der sich zu den Grundlagen der Lösungsfokussierung über Steves Kritik an dem von uns hochgeachteten Gregory Bateson, in dem er »just a muddled thinker« sah, sehr im Gegensatz zu seiner außerordentlichen Hochachtung für John Weakland, schließlich seit 1989 mehr und mehr auf Wittgenstein richtete. Es war ein großes Geschenk, im Dialog mit Steve zu erleben, wie bei ihm Philosophie und (lösungsfokussierte) Praxis nicht etwa nur allmählich verschmolzen, sondern sich in gewissem Sinne als ›immer schon eines‹ herausstellten.

       Wittgensteins philosophische Therapie

      Ein wesentlicher Zug der Philosophie Wittgensteins besteht in der Idee, viele menschliche Probleme als durch eine Art schlechte Philosophie entstanden anzusehen, entstanden über die »Verhexung durch die Sprache«. Auf dieser Sicht beruht dann auch die Umwendung, die Aufgabe einer guten Philosophie, einer »philosophischen Therapie«, darin zu sehen, den Menschen aus dieser Verhexung zu befreien, indem die Irrtümer durch Fragen aufgehoben werden.

      Doch anders als im sokratischen Dialog gebärdet sich Wittgenstein nicht als der Wissende, der einen anderen über etwas, das er im Vorhinein weiß, zu belehren vorhat, sondern lässt uns über ein Netz von Fragen selber ins dialogische Denken kommen. Wittgenstein ist hier ständig bereit, seine eigenen Fragen und Erwägungen durch andere in Frage zu stellen, und diese durch wieder andere. Seltsamerweise entstehen dabei Einsichten – aber eben kein fixes Theoriegebäude. Und könnte das gerade gesagte nicht schon eine Schilderung von Steve im lösungsfokussierten Dialog gewesen sein?

      Wittgenstein sieht seine Philosophie als eine Art philosophischer Therapie zur Aufhebung oft leidvoller und auf jeden Fall hinderlicher sprachlicher Verstrickungen und Denkirrtümer an – und so ähnlich lässt sich auch Steves Verständnis vom Wesen des lösungsfokussierten Interviews sehen. Hier kann die Rolle der Logik als kunstfertiges Mittel zur Aufhebung menschlichen Leidens erkannt werden, ganz wie das in der buddhistischen Tradition gesehen wurde. Die Rolle der Unterschiede verknüpfte zugleich Steves Denken mit Spencer-Browns Unterscheidungsbegriff, doch war Wittgenstein für ihn viel tiefer und umfassender.

      Solche wittgensteinschen Wendungen, aufgefasst als kunstfertige Mittel im Rahmen des Therapiegesprächs, zeigen sich unter anderem in der Auflösung von verdichteten Vorstellungen über innere Zustände und Gefühle und in der Entwicklung neuer hilfreicher Handlungsgewohnheiten bei den Klienten. Gefühle sind für Wittgenstein wie für Steve keine inneren Dinge; es sind problematische und irrige Denkgewohnheiten, die uns zu dieser Sicht immer wieder verleitet haben.

       Irreduzibilität des Regelfolgens bei Wittgenstein

      Der antitheoretische Zug Wittgensteins zeigt sich auch in seiner Ablehnung der Idee, dass das »einer Regel folgen« zerlegt werden könne in die Regel2 und das »ihr folgen«. Aus der Sicht der Philosophischen Untersuchungen, Wittgensteins berühmtestem Spätwerk, bildet ein Regelfolgen eine Einheit, aus der im Allgemeinen keine Regel als eigenständiges »Objekt« der Betrachtung herausgelöst werden kann. Was das mit Therapie und Methodik zu tun hat? Nun, versuchen Sie einmal eine gängige therapeutische Theorie ohne Bezugnahme auf Regeln zu formulieren!

      Problematisches Verhalten von Menschen ist nun natürlich ebenso wie das, was sie nach einem Wunder täten, jeweils eine Form des Regelfolgens. Wenn in modernen Psychotherapieformen von so genannten Verhaltensmustern und Glaubenssätzen die Rede ist, sind dies aus Wittgenstein’scher ebenso wie aus lösungsfokussierter Sicht irreführende Redeweisen, da ja »die« Regel im Regelfolgen letztlich nicht anzutreffen ist. Lösungsfokussierung ist also auch in dem Verzicht auf die Generalisierung durch Regeln zu sehen, und damit im Verzicht auf innere Dynamiken, Verhaltensmuster, Dispositionen, …

      Aus einer Lösung, die sich in einem Fall als wirksam erweist, wird im lösungsfokussierten Ansatz keine neue Regel abgeleitet3. Jede Beschreibung von Gefühlsqualitäten und Eigenschaften innerer Zustände der KlientInnen entfällt hier.

      Die Systematik des lösungsfokussierten Ansatzes ist eine Systematik der Methode, nicht der Inhalte. Sie lässt sich auf der Ebene der Syntax, nicht aber auf der Ebene der Semantik verstehen.

       Theorie, Praxis und Lernbarkeit

      Einerseits ist der lösungsfokussierte Ansatz zweifellos eher eine in Jahrzehnten der Praxis entwickelte pragmatische Methodologie als ein Theoriegebäude im klassischen Sinne; doch andererseits sind grammatische Einsichten, Einsichten über die Art, in der die Struktur unserer Sprache Einfluss auf die in der Sprache ausgedrückten Fragen und Probleme

Скачать книгу