Mehr als ein Wunder. Steve de Shazer
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Wir begegneten uns zum ersten Mal Mitte der 1980er Jahre, als ich ihr Brief Family Therapy Center (BFTC) in Milwaukee, Wisconsin, besuchte. Von der Ambulanz des BFTC aus wurde ich in einen höhlenartigen Beobachtungsraum geführt, in dem eine große Menschengruppe saß und in gebannter Faszination zuschaute, wie eine zierliche Koreanerin mit kurzem, dunklem Haar und funkelnden Augen auf sanfte, fürsorgliche Weise hinter dem Einwegspiegel ein Therapiegespräch mit einer ungepflegten Multiproblem-Familie führte. Die Frau war Insoo Kim Berg, und sie strahlte eine unerschütterliche Achtung vor der Kompetenz, den Ressourcen und der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis bei jedem einzelnen Familienmitglied und einen unerschütterlichen Glauben daran aus.
Ich erinnere mich, dass ich damals dachte: »Auch wenn ich mein ganzes Leben lang dafür brauche – ich möchte so therapieren lernen, wie sie das tut.« Rückblickend zeigt sich, dass ich mit diesem Zeitrahmen vielleicht gar nicht so sehr danebenlag. Als ich zwei Jahrzehnte später mit Steve in seinem letzten Lebensjahr an diesem Buch arbeitete, vertraute er mir gut gelaunt an, dass er einen großen Teil seiner Laufbahn darauf verwendet habe, alles präzise zu benennen und schriftlich festzuhalten, was Insoo tat, wenn sie lösungsfokussierte Therapien durchführte!
Steve de Shazer veröffentlichte neben zahlreichen Buchkapiteln und Artikeln fünf bahnbrechende Bücher, die bislang in 14 Sprachen übersetzt worden sind. Er war Mitbegründer des Milwaukee Brief Family Therapy Center, dessen Leitung er 1978 bis 1989 innehatte und an dem er die letzten 16 Jahre seines Lebens als Senior Research Associate wirkte.
Obwohl ich Steve de Shazer und Insoo Kim Berg über 20 Jahre lang bei ihrer Arbeit beobachtet habe, war es immer wieder eine aufschlussreiche Erfahrung, sie im Gespräch mit Klienten zu erleben. Beide gingen sehr ungezwungen mit Phasen des Schweigens um und konnten diese therapeutisch äußerst geschickt nutzen; sie betrachteten Veränderungsprozesse als einen unvermeidlichen und dynamischen Teil des Alltagslebens und wussten, dass Lösungen nicht zwangsläufig mit den Problemen zusammenhängen, die sie beseitigen.
Die lösungsfokussierte Kurztherapie ist bekanntlich zwar auf die Zukunft gerichtet und bewegt sich absichtlich an der Oberfläche des Problems, aber die Antworten der Klienten auf Kim Bergs oder de Shazers lösungsfokussierte Fragen konnten zu einer äußerst detaillierten, sehr spezifisch fokussierten Art von Lebensrückblick führen, in dem Klient und Therapeut peinlich genau die gesamte Bandbreite der Erfahrungen des Klienten durchkämmten, um zentrale Ausnahmen (d. h. Zeiten, in denen das Problem nicht vorhanden oder weniger ausgeprägt war) sowie für die Lösungsentwicklung relevante Ressourcen aufzustöbern bzw. zu benennen.
Das vielleicht bedeutsamste Moment ist das, dass Kim Berg und de Shazer Sitzung für Sitzung konsequent etwas vollbrachten, das leicht gesagt, aber oft sehr schwer umzusetzen ist: Sie zeigten großen Respekt vor den Klienten und motivierten sie leidenschaftlich zum Hoffen, und dabei gingen sie präzise, wirksam und kraftvoll mit der Sprache um. Und sie schafften es, der therapeutischen Arbeit den Anschein von Leichtigkeit zu geben.
Steve de Shazers Kommunikationsstil kann man wegen seiner präzis-knappen und sorgfältigen Wortwahl durchaus minimalistisch nennen. Doch ich würde die Aufmerksamkeit, Andacht und Fokussiertheit, mit der er seinen Klienten zuhörte, anders bezeichnen: als wertschätzende Beobachtung. Er ging nicht nur davon aus, dass Klienten ihr Bestes geben, sondern er tat etwas viel Schwierigeres und weitaus Respektvolleres: Er unterließ es ganz bewusst, auf der Basis von Annahmen menschliches Verhalten willkürlich zu interpretieren bzw. auf der Basis von Interpretationen Annahmen zu formulieren.
Über dieses Buch
Sowohl Steve als auch Insoo hatten erkannt, dass der Ansatz der lösungsfokussierten Kurztherapie, den sie mit ihren Kollegen und Kolleginnen am Brief Family Therapy Center ins Leben gerufen und entwickelt haben, einer Aktualisierung und weiteren Klarstellung bedurfte. Von der Tatsache, dass Steve an einer unheilbaren Krankheit litt, als wir die Arbeit an diesem Buch aufnahmen, ging für alle Beteiligten ein Hauch von Dringlichkeit und bittersüßer Schärfe aus. Obwohl Insoo (mit der für sie typischen Bescheidenheit) darauf bestand, auf dem Titelblatt des Buches als Letzte genannt zu werden, spiegelt sich in dem wunderbaren Falltranskript und ihren wertvollen Kommentaren der starke Einfluss, den sie auf den Inhalt des Buches hatte.
Während Steve und ich die gemeinsame Arbeit an diesem Projekt schon im Juli 2003 aufgenommen hatten, bekam das Buch seine jetzige Form erst ein paar Monate später, als einige von uns (Terry Trepper, Eric McCollum, Harry Korman und ich) ihn um ein detailliertes »Update« des lösungsfokussierten Therapieansatzes baten. Als erfahrene lösungsfokussiert arbeitende Therapeuten wollten wir wissen, wie die bahnbrechenden Gedanken von Steves Lieblingsphilosophen, Ludwig Wittgenstein, mit dem SFBT-Konzept zusammengehen und wie wir in der therapeutischen Praxis diese Ideen bei Klienten, Supervisanden und Studenten produktiv anwenden können. Ganz im Sinne des Modells verfolgten wir ein pragmatisches Ziel: Wir wollten als lösungsfokussiert arbeitende Therapeuten besser werden.
So verbrachte das Autorenteam Stunden damit, aufgezeichnete Therapiesitzungen anzuschauen und ausgiebig zu besprechen. Da bei solchen Gelegenheiten das Aufzeichnungsgerät lief, konnte ich später einen großen Teil dieser langen Gespräche transkribieren – die als Kommentare zu den Transkripten der einzelnen Therapiesitzungen und in den einzelnen Kapiteln dieses Buches ihren Niederschlag gefunden haben.
Bei der Lektüre des Buches werden Sie vielleicht feststellen, dass sich unsere Äußerungen (d. h. die der Autoren und Autorinnen) gelegentlich überschneiden, wie das in echten Gesprächen der Fall ist. Statt stilistische Unterschiede zu nivellieren, haben wir es absichtlich bei den originalen »Stimmen« belassen, damit unsere vielfältigen persönlichen Kommunikationsstile so deutlich werden wie in einem echten Seminar – was sich in der Kürze einiger und der relativen Länge anderer Kapitel, im Ton einzelner Abschnitte und natürlich in der Wortwahl widerspiegelt.
Wer schon einmal an einem unserer Workshops teilgenommen hat, wird in diesem Buch Steve de Shazers weithin bekannte knapp und elegant formulierte Sätze und seinen kernigen Humor wieder erkennen. Man »hört« auch Insoo Kim Bergs Warmherzigkeit, ihre besondere Beobachtungsgabe und ihren respektvollen Optimismus, Harry Kormans intellektuelle Neugier, Yvonne Dolans Sachlichkeit, Terry Treppers visionäre Kraft und Eric McCollums kritisches Denken.
Und nun dürfen wir Sie einladen, sich zu setzen und uns durch dieses ungewöhnliche und spannende »Seminar« über den neuesten Stand der lösungsfokussierten Kurztherapie und ihr besonderes Verhältnis zu Wittgensteins Philosophie zu begleiten. Auf den folgenden Seiten werden Sie an erstaunlichen psychotherapeutischen Sitzungen teilnehmen, den Kommentaren der Autoren und Autorinnen lauschen und gelegentlich auch ein paar Worte des Philosophen selbst vernehmen.
Bleibt noch, Ihnen unsere »Clique« vorzustellen, deren Mitglieder seit langen Jahren befreundet sind und kollegial zusammenarbeiten. Der bärtige Mann, der einen irischen Fischerpullover trägt und ein bisschen wie Sean Connery aussieht, ist Steve de Shazer. Die anmutige, kleine Frau, die eine rote Jacke trägt und ruhig und gelassen in dem großen Ledersessel sitzt, ist Insoo Kim Berg, international gefeierte Ausbilderin, Dozentin und Autorin zahlreicher Bücher und Zeitschriftenartikel zum Thema lösungsorientierte Kurztherapie. Neben ihr sitzen Eric McCollum, der an der Virginia Tech in Falls Church im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia lehrt, und Terry Trepper, Leiter des Family Studies Program an der Purdue University im Bundesstaat Indiana. Die Person, mit der wir über den Computer in der Ecke verbunden sind und per Internet »sprechen« können, ist Harry Korman, der als Arzt, Kinderpsychiater, Ausbilder