Das Jahrhundert des Populismus. Pierre Rosanvallon
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Jahrhundert des Populismus - Pierre Rosanvallon страница 3
![Das Jahrhundert des Populismus - Pierre Rosanvallon Das Jahrhundert des Populismus - Pierre Rosanvallon](/cover_pre865247.jpg)
DEN POPULISMUS DENKEN
Der Populismus revolutioniert die Politik des 21. Jahrhunderts. Doch das wahre Ausmaß der von ihm bewirkten Umwälzung haben wir noch nicht erfasst. Das Wort mag allgegenwärtig sein, die Theorie des Phänomens hingegen findet sich nirgendwo. In ihm verbindet sich ein Gefühl intuitiver Selbstverständlichkeit mit einer Form von Unbestimmtheit. Davon zeugt in erster Linie das semantische Changieren, das seinen Gebrauch charakterisiert. Denn es handelt sich zweifellos um einen sehr dehnbaren Begriff, seiner chaotischen Verwendung nach zu urteilen. Auch einen paradoxen Begriff, denn er hat zumeist eine abwertende und negative Konnotation, während er sich von dem ableitet, was im positiven Sinne das demokratische Leben begründet. Es ist ferner ein projektiver Begriff, denn er versieht mit einem einzigen Label eine ganze Reihe politischer Umbrüche der Jetztzeit, die es in ihrer Komplexität und ihren tieferen Ursachen zu erfassen gälte. Ist es beispielsweise sachdienlich, den gleichen Ausdruck zu verwenden, um Chávez’ Venezuela, Orbáns Ungarn oder Dutertes Philippinen zu bezeichnen, ganz zu schweigen von einer Figur wie Trump? Macht es Sinn, die Spanier von Podemos und La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon mit den Kumpanen von Marine Le Pen, Matteo Salvini oder Nigel Farage in einen Topf zu werfen? Verstehen heißt nämlich, zu unterscheiden und folglich vereinfachenden Gleichsetzungen zu widerstehen. Schließlich ist Populismus ein zweifelhafter Begriff, denn er dient häufig nur dazu, Gegner zu stigmatisieren oder unter neuem Namen den alten Überlegenheitsanspruch der Mächtigen und Gebildeten gegenüber den unteren Schichten zu legitimieren, denen stets unterstellt wird, sich in einen von seinen dunklen Trieben beherrschten Pöbel verwandeln zu wollen. Man kann die Frage des Populismus nicht erörtern, ohne diesen Befund im Kopf zu behalten, denn er stellt eine Art Warnung dar, sowie eine Aufforderung, bei der Behandlung des Themas politischen Scharfblick und geistige Strenge walten zu lassen.
Diese Notwendigkeit, auf die Fallstricke zu achten, die der Begriff »Populismus« bereithält, darf allerdings nicht dazu führen, ganz auf ihn zu verzichten. Und zwar aus zwei Gründen. Zunächst einmal, weil er sich gerade in seiner Verworrenheit als unumgänglich erwiesen hat. Wenn er trotz all der von uns erwähnten Vorbehalte immer noch in aller Munde ist, dann auch deshalb, weil er, auf zugleich unbestimmte und nachdrückliche Weise, dem Bedürfnis entsprach, eine neue Sprache für eine neue Dimension des politischen Zyklus zu verwenden, der sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert aufgetan hat; und weil er in dieser Eigenschaft bisher ohne Konkurrenz ist. Ein politischer Zyklus, den manche als dringende gesellschaftliche Erwartung nach Neubelebung des demokratischen Projekts durch Rückkehr zu einer aktiveren Form von Volkssouveränität beschreiben, während andere in ihm umgekehrt die Vorzeichen für eine drohende Destabilisierung dieses Projekts erkennen. Doch das zweite und entscheidende Faktum ist, dass der Begriff letztlich von jenen Politikern mit Stolz übernommen wurde, die seine Verwender in einem denunziatorischen Sinne hatten an den Pranger stellen wollen.1 Es gibt eine lange Liste von Persönlichkeiten der Rechten und extremen Rechten, die das Stigma umzukehren versuchten, indem sie zunächst behaupteten, das Wort »mache ihnen keine Angst«, bevor sie es sich selbst nach und nach aneigneten. Ähnlich verlief die Entwicklung auf der Linken, wie auf exemplarische Weise Jean-Luc Mélenchon bezeugt. »Ich habe überhaupt keine Lust, mich gegen den Vorwurf des Populismus zu wehren«, sagte er schon 2010. »Das ist der Hochmut der Eliten. Sollen sie doch alle abhauen! Populist, ich? Meinetwegen.«2 Die Tatsache, dass einige Intellektuelle zu Befürwortern eines »linken Populismus« geworden sind, hat ebenfalls sehr dazu beigetragen, dem Begriff genug Festigkeit zu geben und ihn in den politischen Sprachgebrauch eingehen zu lassen. Die Stellungnahmen und Schriften von Wendy Brown, Nancy Fraser, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe waren in dieser Hinsicht einflussreich, indem sie dazu anregten, den Begriff beizubehalten und seine Aussagekraft anzuerkennen.
Eine zu theoretisierende Realität
Das Problem ist, dass die weiter wachsende Zahl von Werken, die dem Populismus gewidmet sind, sich im Wesentlichen darauf beschränkt, die Motive für das populistische Votum zu verstehen, um seinen spektakulären Aufstieg in der ganzen Welt zu erklären. Mit den Werkzeugen der Wahlforschung und der politischen Wissenschaft beschreiben sie die betroffenen Bevölkerungsgruppen, die Werte, die sie vertreten, ihre Beurteilung der Politik und der Institutionen und natürlich ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in ihren verschiedenen Dimensionen. Die Untersuchungen zeichnen das Porträt einer sozialen und kulturellen Welt, das in vielen Ländern objektive Gemeinsamkeiten aufweist: Personen, die abseits der Metropolen in Zonen des industriellen Niedergangs leben und als »Verlierer« der Globalisierung gelten können, mit unterdurchschnittlichem Einkommen und relativ wenigen Hochschulabsolventen. Wütende Bevölkerungsgruppen auch, die in subjektiverer Weise durch ihr Ressentiment gegenüber einem System zu beschreiben sind, von dem sie sich verachtet und unsichtbar gemacht fühlen, die sich auszeichnen durch ihre Angst, angesichts der Öffnung der Welt und der Ankunft von Migrant*innen ihrer Identität beraubt zu werden. Durch den Vergleich vieler Daten und den Entwurf erneuerter Konzepte haben manche dieser Arbeiten es ermöglicht, zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was diese populistische Wählerschaft ausmacht. Doch gleichzeitig verhinderten sie auch ein umfassendes Verständnis des Phänomens, indem sie es implizit als bloßes Symptom für andere Dinge betrachteten, die der eigentliche Gegenstand wären, dem die Aufmerksamkeit zu gelten hätte: den Niedergang der Parteiform zum Beispiel, die Kluft zwischen der politischen Klasse und der Gesellschaft oder das Verschwinden des Unterschieds zwischen einer Rechten und einer Linken, die gleichermaßen unfähig sind, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. In diesem Fall wird nicht mehr das Wesen des Populismus, sondern seine Ursachen gedacht. Was darauf hinausläuft, eine neuerliche Analyse der Politikverdrossenheit und der aktuellen sozialen Spaltungen vorzunehmen.
Die häufige Gleichsetzung der Populismen mit ihrer Protestdimension und dem daraus folgenden Politikstil und Diskurstyp ist eine zweite Art, sie nicht in vollem Umfang zu erfassen.3 Diese Dimension ist zwar unleugbar, doch darf sie nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Populismen auch ein echtes politisches Angebot darstellen, das seine eigene Schlüssigkeit und positive Stärke besitzt. Ihre gewohnheitsmäßige Identifizierung mit politischen Figuren der Vergangenheit, insbesondere aus den Traditionen der extremen Rechten, führt dazu, ihr Wesen noch weiter zu reduzieren. Zwar sind die Populismen oft in ihrem Dunstkreis entstanden, doch hat das Phänomen mittlerweile eine andere Dimension angenommen (ungeachtet der Tatsache, dass sich ein als links verstehender Populismus herausgebildet hat).
Hinzuweisen ist auch auf die Grenzen der Erstellung diverser Typologien des Populismus, die oft vorgeschlagen wird. Die Vielfalt ihrer Varianten zu beschreiben (rechte und linke, mit ihrem jeweiligen Graden an Autoritarismus, den mit ihnen verbundenen wirtschaftspolitischen Unterschieden usw.), ist keine Hilfe, um das Wesentliche zu verstehen: den Kern unveränderlicher Elemente sowie die Regeln zur Differenzierung von Sonderfällen. Eine Typologie kann sich auch darin erschöpfen, jedem Einzelfall eine besondere Kategorie zuzuordnen. Sie ist dann nichts weiter als eine chaotische Aufzählung, eine Liste à la Prévert, wie man im Französischen sagt. Eine Zeitschrift hielt es beispielsweise für erhellend, die 36 Familien des Populismus zu unterscheiden!4 Eine solche Übung ist das genaue Gegenteil einer Konzeptualisierungsarbeit; sie ist nur eine Verschleierung der Unfähigkeit, das Wesen der Dinge zu erfassen.
Zugleich ist das Problem, dass diese von den einen gefeierten, von den anderen verteufelten Populismen nur vage und damit unzureichend bestimmt geblieben sind. Sie wurden im Wesentlichen auf dumpf formulierte Aversionen und Ablehnungen zurückgeführt oder auf Projekte, die sich in wenigen Parolen zusammenfassen lassen (wie im Fall des berühmten RIC5 in Frankreich). Was es erschwert, ihren Aufstieg zu analysieren und zugleich eine stichhaltige Kritik zu erarbeiten. Will man die Populismen in ihrer vollen Dimension verstehen, als eigenständige politische Kultur, die dabei ist, unsere politische Landschaft neu zu definieren, kommt man um die Feststellung nicht herum, dass sie noch nicht in diesen Begriffen analysiert wurden. Gleichzeitig haben ihre Akteure, trotz einiger bemerkenswerter Publikationen oder Reden, auf die wir noch kommen werden, noch keine wirkliche