Das Jahrhundert des Populismus. Pierre Rosanvallon

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Das Jahrhundert des Populismus - Pierre  Rosanvallon

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       DEN POPULISMUS DENKEN

      Der Populismus revolutioniert die Politik des 21. Jahrhunderts. Doch das wahre Ausmaß der von ihm bewirkten Umwälzung haben wir noch nicht erfasst. Das Wort mag allgegenwärtig sein, die Theorie des Phänomens hingegen findet sich nirgendwo. In ihm verbindet sich ein Gefühl intuitiver Selbstverständlichkeit mit einer Form von Unbestimmtheit. Davon zeugt in erster Linie das semantische Changieren, das seinen Gebrauch charakterisiert. Denn es handelt sich zweifellos um einen sehr dehnbaren Begriff, seiner chaotischen Verwendung nach zu urteilen. Auch einen paradoxen Begriff, denn er hat zumeist eine abwertende und negative Konnotation, während er sich von dem ableitet, was im positiven Sinne das demokratische Leben begründet. Es ist ferner ein projektiver Begriff, denn er versieht mit einem einzigen Label eine ganze Reihe politischer Umbrüche der Jetztzeit, die es in ihrer Komplexität und ihren tieferen Ursachen zu erfassen gälte. Ist es beispielsweise sachdienlich, den gleichen Ausdruck zu verwenden, um Chávez’ Venezuela, Orbáns Ungarn oder Dutertes Philippinen zu bezeichnen, ganz zu schweigen von einer Figur wie Trump? Macht es Sinn, die Spanier von Podemos und La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon mit den Kumpanen von Marine Le Pen, Matteo Salvini oder Nigel Farage in einen Topf zu werfen? Verstehen heißt nämlich, zu unterscheiden und folglich vereinfachenden Gleichsetzungen zu widerstehen. Schließlich ist Populismus ein zweifelhafter Begriff, denn er dient häufig nur dazu, Gegner zu stigmatisieren oder unter neuem Namen den alten Überlegenheitsanspruch der Mächtigen und Gebildeten gegenüber den unteren Schichten zu legitimieren, denen stets unterstellt wird, sich in einen von seinen dunklen Trieben beherrschten Pöbel verwandeln zu wollen. Man kann die Frage des Populismus nicht erörtern, ohne diesen Befund im Kopf zu behalten, denn er stellt eine Art Warnung dar, sowie eine Aufforderung, bei der Behandlung des Themas politischen Scharfblick und geistige Strenge walten zu lassen.

       Eine zu theoretisierende Realität

      Das Problem ist, dass die weiter wachsende Zahl von Werken, die dem Populismus gewidmet sind, sich im Wesentlichen darauf beschränkt, die Motive für das populistische Votum zu verstehen, um seinen spektakulären Aufstieg in der ganzen Welt zu erklären. Mit den Werkzeugen der Wahlforschung und der politischen Wissenschaft beschreiben sie die betroffenen Bevölkerungsgruppen, die Werte, die sie vertreten, ihre Beurteilung der Politik und der Institutionen und natürlich ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in ihren verschiedenen Dimensionen. Die Untersuchungen zeichnen das Porträt einer sozialen und kulturellen Welt, das in vielen Ländern objektive Gemeinsamkeiten aufweist: Personen, die abseits der Metropolen in Zonen des industriellen Niedergangs leben und als »Verlierer« der Globalisierung gelten können, mit unterdurchschnittlichem Einkommen und relativ wenigen Hochschulabsolventen. Wütende Bevölkerungsgruppen auch, die in subjektiverer Weise durch ihr Ressentiment gegenüber einem System zu beschreiben sind, von dem sie sich verachtet und unsichtbar gemacht fühlen, die sich auszeichnen durch ihre Angst, angesichts der Öffnung der Welt und der Ankunft von Migrant*innen ihrer Identität beraubt zu werden. Durch den Vergleich vieler Daten und den Entwurf erneuerter Konzepte haben manche dieser Arbeiten es ermöglicht, zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was diese populistische Wählerschaft ausmacht. Doch gleichzeitig verhinderten sie auch ein umfassendes Verständnis des Phänomens, indem sie es implizit als bloßes Symptom für andere Dinge betrachteten, die der eigentliche Gegenstand wären, dem die Aufmerksamkeit zu gelten hätte: den Niedergang der Parteiform zum Beispiel, die Kluft zwischen der politischen Klasse und der Gesellschaft oder das Verschwinden des Unterschieds zwischen einer Rechten und einer Linken, die gleichermaßen unfähig sind, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. In diesem Fall wird nicht mehr das Wesen des Populismus, sondern seine Ursachen gedacht. Was darauf hinausläuft, eine neuerliche Analyse der Politikverdrossenheit und der aktuellen sozialen Spaltungen vorzunehmen.

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