Das Jahrhundert des Populismus. Pierre Rosanvallon

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Das Jahrhundert des Populismus - Pierre  Rosanvallon

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dar, im Gegensatz zu dem, was schlecht informierte Verweise bisweilen nahelegen.

      Ein zweiter Typ von Geschichte ermöglicht uns überzeugendere Fortschritte im Verständnis des zeitgenössischen Populismus. Es ist die der Momente und Regime, die ohne Bezug auf den Begriff ein besseres Verständnis für die Dynamik seiner Wesensbestandteile eröffnen und mit unseren heutigen Anliegen korrespondieren. Wir haben drei von ihnen berücksichtigt. Zunächst das Regime des Second Empire. Denn es veranschaulicht auf exemplarische Weise, wie der Kult um das allgemeine Wahlrecht und das Referendum (seinerzeit »Plebiszit« genannt), mit dem Aufbau einer autoritären, unmittelbaren und polarisierten Demokratie einhergehen konnte, die man heute gemeinhin als »illiberal« bezeichnen würde. Das Interessante an diesem Regime für uns ist, dass es diese Vorstellung theoretisch untermauerte, indem es eben Gründe dafür entwickelte, warum es in seinen Augen eine authentischere Demokratie darstellte als das liberal-parlamentarische Modell. Das lateinamerikanische Laboratorium aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, zunächst veranschaulicht durch die Figuren des Kolumbianers Gaitán und des Argentiniers Perón, verdeutlicht des Weiteren die Ausdrucks- und Umsetzungsbedingungen der Repräsentation als Verkörperung sowie die Mobilisierungskraft des Gegensatzes von Volk und Oligarchie in Gesellschaften, die keine Klassengesellschaften europäischen Typs waren. Die Rückbesinnung auf den Moment 1890–1914 bietet schließlich den Vorteil eines guten Beobachtungspostens für den Bedeutungsgewinn populistischer Themen während der ersten Globalisierung, vor allem in Frankreich und den Vereinigten Staaten. Sie verdeutlicht die Voraussetzungen für die Neudefinition politischer Spaltungen jenseits des traditionellen Rechtslinks-Gegensatzes. Und sie ermöglicht auch zu verstehen, wie die populistische Welle von damals gestoppt werden konnte. Insofern sehen wir uns dazu herausgefordert, eine nicht eingetretene Zukunft in Betracht zu ziehen. Zwar ist die Gegenwart stets neu, und es gilt, sich vor Analogien zu hüten, die diese Eigenschaft reduzieren, dennoch bietet die Erinnerung an diese drei ausgewählten Momente durchaus Stoff zum Nachdenken.

      Eine umfassende Weltgeschichte des Populismus bezeichnet einen dritten Ansatz, in dem das Soziale und das Konzeptuelle untrennbar verbunden sind. Sie ist bestrebt, unser Verständnis der Gegenwart zu vertiefen, indem sie die Vergangenheit als Repertoire gescheiterter Möglichkeiten betrachtet, als Versuchslabor, das dazu einlädt, über Misserfolge, Rückschläge, Improvisationen nachzudenken. Es handelt sich um eine Langzeitbetrachtung des Problematischen an der Demokratie. Es ist keine Geschichte eines Idealmodells, das man in seinem Reifeprozess studieren würde, in der Annahme, dass es sich eines Tages vollständig entfaltet. Denn die Geschichte der Demokratie hat nichts Lineares: sie besteht aus ständigen intellektuellen Kontroversen um ihre Definition und ist geprägt von heftigen sozialen Kämpfen um die Einführung einiger ihrer wichtigsten Institutionen (man denke nur an die einstige Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts und die heutige Anerkennung von Minderheitenrechten). Es ist eine Geschichte nicht gehaltener Versprechen und misshandelter Ideale, in der wir noch heute voll und ganz befangen sind, wie das Ausmaß der Desillusionierung über die Demokratie in der Gegenwart sowie die Schwierigkeit, die Entstehungsbedingungen für eine wirkliche Gesellschaft der Gleichen zu finden, bezeugen. Eine turbulente Geschichte, die nicht zu trennen ist von einer strukturellen Unbestimmtheit hinsichtlich der ihr angemessenen Formen, da die passenden Modalitäten zur Ausübung kollektiver Souveränität, die Aufstellung von Gerechtigkeitsnormen zur Errichtung einer Welt der Ebenbürtigen sowie die Definition des Volkes an sich stets umstritten bleiben. Gleichzeitig führen die Unduldsamkeiten der einen und die Ängste der anderen dazu, das Verständnis der zu vollziehenden Brüche oder der zu bewahrenden Errungenschaften permanent zu radikalisieren. Wir werden in diesem Rahmen den Populismus als eine Grenzform des demokratischen Projekts definieren. Neben den beiden anderen Grenzformen: den Minimaldemokratien (die auf Menschenrechte und Anführerwahl reduzierte Demokratie) und den essenzialistischen Demokratien (definiert durch das Vorhandensein einer mit der Herbeiführung des Guten betrauten Gesellschaftsmacht). Jede dieser Formen ist aufgrund ihrer Struktur und Geschichte von spezifischen Verfallsbedingungen bedroht: dem Abgleiten in Wahloligarchien im Fall der Minimaldemokratien und der totalitären Wendung der Macht gegen die Gesellschaft bei den essenzialistischen Demokratien. Der Populismus wiederum, der eine Form von Demokratie darstellt, die wir als polarisiert bezeichnet haben, ist, wenn er ein Regime bildet, davon bedroht, in eine Demokratur umzuschlagen, das heißt eine autoritäre Macht, die allerdings mit einer (variablen) Fähigkeit zur Umkehr ausgestattet bleibt.

       Zur Kritik des Populismus

      Diese Aufgabe nimmt zunächst die Form einer fundierten Analyse der Grenzen des Referendums im Hinblick auf die Vollendung des demokratischen Ideals an. Anschließend wird die Frage der demokratischen Polarisierung behandelt und betont, dass eine Demokratie, die eine Gemeinschaft zur Herrin des eigenen Schicksals machen will, nicht nur auf der Ausübung einer durch Wahlen bestimmten Mehrheitsmacht beruhen darf. Da Letztere eine verfassungsmäßige, aber notorisch unzureichende Äußerung des Gemeinwillens ist, muss dieser zusätzliche Ausdrucksformen annehmen, um dem demokratischen Ideal mehr Konsistenz zu verleihen. Hierbei werden die Begriffe »Niemandes Macht« und »Irgendjemandes Macht« entwickelt, als zwei weitere Auffassungen des demokratischen »Wir«, mit den ihnen entsprechenden institutionellen Strukturen, um darauf hinzuweisen, welche Verkürzung eine rein wahlbezogene Sicht der Macht aller impliziert. Bei dieser Gelegenheit wird ferner nachgewiesen, dass Institutionen wie Verfassungsgerichte und unabhängige Behörden, die gemeinhin nur unter ihrer liberalen Dimension wahrgenommen werden, vor allem demokratischen Charakters sind. Denn sie stellen eine Sicherheit des Volkes gegenüber ihren Repräsentanten dar. Dieser Ansatz ist zugleich eine Einladung, die Beziehungen zwischen Liberalismus und Demokratie, d. h. zwischen Freiheit und Souveränität, auf inklusive, nicht exklusive Weise zu denken. Anschließend wird die populistische Auffassung des Volksbegriffs untersucht und dabei eine soziologisch begründete Kritik am Gegensatz zwischen dem 1% und den 99% entfaltet. Der Begriff

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