Das Jahrhundert des Populismus. Pierre Rosanvallon

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Das Jahrhundert des Populismus - Pierre  Rosanvallon

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Wort »Volk« erscheint auch deshalb heute besonders sinnfällig, weil es dem, was viele Bürger*innen undeutlich empfinden, eine Sprache gibt. Während die Begriffe der traditionellen Soziologie, das statistische Vokabular der sozioprofessionellen Kategorien und die Kriterien der Verwaltungsformulare ihnen einer toten Sprache anzugehören scheinen, die weit von ihrem Leben und ihren Erfahrungen entfernt ist. Die Spaltung zwischen dem »Oben« und dem »Unten« der Gesellschaft wird nämlich auch auf ganz existenzielle Weise erlebt. Die Eliten werden beschuldigt, in einer Welt zu leben, die nicht mehr weiß, was vor ihren Türen passiert. Und das Volk definiert sich spiegelbildlich als die Welt der Männer und Frauen, die in den Augen dieser Wichtigtuer namenlos sind. Die soziale Spaltung enthält somit auch eine »kognitive Distanz«, eine Kluft zwischen den »statistischen Wahrheiten«, die die Regierenden anführen, um den Zustand der Gesellschaft zu beschreiben, und den gefühlten Lebensbedingungen. Das beliebige Individuum hat nämlich nichts mit den Durchschnittsmenschen in der heutigen Gesellschaft zu tun: Es ist immer besonders.

      Die positive Wiederaufnahme des Wortes »Volk« ist in diesem Kontext zu sehen. Sein neuerlicher Gebrauch verweist nicht mehr auf eine politische Abstraktion oder eine gesichtslose Menge. Gerade in seiner Unbestimmtheit scheint es sich dem konkret fassbaren Leben eines jeden zu öffnen. Es gibt einer Gesellschaft von Individuen aufgrund seiner Empfänglichkeit für Singularitäten eine kollektive Form. Und das umso mehr als die glorreiche Geschichte, die ihm eigen ist, die Stellung derer, die sich beherrscht, unsichtbar gemacht oder in der Besonderheit ihrer Umstände eingesperrt fühlen, in gewisser Weise aufwertet. Man kann so stolz in Anspruch nehmen, zum Volk zu gehören während man sich ein wenig dafür schämt, durch einschränkende Kriterien definiert zu werden (arbeitslos zu sein, vom Mindestlohn zu leben, schlecht über die Runden zu kommen, geringe Schulabschlüsse zu haben …). Das Wort ermöglicht somit gleichzeitig, einen Wutschrei zu artikulieren und einen gewissen Adel zur Schau zu stellen.

      1Vergleiche dazu die Ausführungen in meiner Vorlesung von 2018 am Collège de France.

      2Ich erlaube mir, auf mein Werk Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France zu verweisen.

      3Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, S.16–17.

      4Ernesto Laclau, »Logiques de la construction politique et identités populaires«, S.151. Dieser Text besteht aus Exzerpten von On Populist Reason und stellt eine gute Zusammenfassung seines Buches dar.

      5Ebd., S.152.

      6Siehe seinen Artikel »Ernesto Laclau: le seul et vrai théoricien de populisme de gauche«, Éléments, Nr. 160, Mai-Juni 2016.

      7Siehe sein Gespräch mit Marcel Gauchet in: Philosophie Magazine, Nr. 124, Oktober 2018 (Gauchet hatte gerade Robespierre, l’homme qui nous divise le plus, veröffentlicht). Siehe auch sein mit Cécile Amar verfasstes De la vertu.

      8Die Wahrung der eigenen Identität und Würde kann sich beispielsweise in einer Ablehnung als »fremdartig« geltender Religionen äußern (vor allem des Islam).

      9Diesen Titel hat Chantal Mouffe einem gemeinsam mit der Nummer zwei von Podemos in Spanien verfassten Buch gegeben (Chantal Mouffe/Íñigo Errejón, Construir Pueblo; frz. Construire un peuple).

      10Daher die geringe Aufmerksamkeit, die den Gewerkschaften seitens der populistischen Bewegungen zuteilwird.

       2Eine Demokratietheorie: direkt, polarisiert, unmittelbar

      Die Populismen sehen sich selbst in der Perspektive einer demokratischen Erneuerung. Sie machen deshalb den bestehenden Demokratien, der Art, wie sie praktisch und theoretisch konzipiert sind, den Prozess. Demokratien, die man als liberal-repräsentative bezeichnen könnte. Liberal, insofern sie Verfahren und Institutionen eingeführt haben, um der Gefahr von Mehrheitstyranneien vorzubeugen, indem sie der Garantie der persönlichen Integrität und Autonomie einen zentralen Stellenwert einräumen. Es handelt sich in den meisten Ländern um verfassungsrechtliche Bestimmungen zur Wahrung der Individualrechte und zur Einschränkung der gesetzgebenden Macht oder um unabhängige Behörden zur Kontrolle der Exekutive oder sogar zur Ausübung mancher ihrer Befugnisse. Repräsentativ, weil sie auf dem Gedanken einer Volksmacht beruhen, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf den Prozess der Selektion und Bestätigung der Verantwortlichen durch Wahlen beschränkt. Das populistische Demokrativerständnis versucht, eine Alternative zu dieser

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