Das Jahrhundert des Populismus. Pierre Rosanvallon

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Das Jahrhundert des Populismus - Pierre  Rosanvallon

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alle großen Ideologien der Moderne mit der Veröffentlichung grundlegender Werke einher, die kritische Analysen der bestehenden Gesellschaft und Politik mit Zukunftsvisionen verbanden. Die Prinzipien des Liberalismus wurden von Adam Smith und Jean-Baptiste Say, Benjamin Constant oder John Stuart Mill formuliert; der Sozialismus wurde durch die Arbeiten von Pierre Leroux, Proudhon, Jaurès oder Kautsky begründet; die Werke von Cabet und Marx spielten bekanntermaßen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung des kommunistischen Ideals. Der Anarchismus wiederum identifizierte sich mit dem Beiträgen von Bakunin und Kropotkin, während Konservatismus und Traditionalismus in Burke und Bonald ihre Verfechter fanden. Die Regeln der Repräsentativregierung wurden im Laufe der Revolutionen des 18. Jahrhunderts von den Gründervätern präzise erarbeitet. Und noch viele weitere Namen aus jüngerer Vergangenheit könnten herbeizitiert werden, um die Korrekturen oder Vertiefungen dieser Pionierwerke zu veranschaulichen, die die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Welt in den letzten zwei Jahrhunderten erforderlich machten.

      Ziel dieses Buches ist es, einen ersten Entwurf dieser fehlenden Theorie vorzulegen. Und zwar mit dem Anspruch, dies in Begrifflichkeiten zu tun, die eine radikale – d. h. an die Wurzel gehende – Konfrontation mit der populistischen Idee ermöglichen. Das impliziert, sie als aufsteigende Ideologie des 21. Jahrhunderts anzuerkennen, eine Anerkennung, die zur Ausbildung einer fundierten Kritik auf dem Gebiet der Demokratie- und Gesellschaftstheorie erforderlich ist. Die folgenden Seiten beabsichtigen, diese Aufgabe in drei Etappen zu bewältigen. Sie beginnen mit der Beschreibung einer Anatomie des Populismus, um einen Idealtypus zu erstellen. In einem zweiten Schritt wird eine Geschichte des Populismus präsentiert, um diesen Idealtypus in eine allgemeine Typologie demokratischer Formen zu integrieren. Ein dritter Teil ist schließlich seiner Kritik gewidmet.

       Die Anatomie des Populismus

       Die drei Geschichten des Populismus

      Hat der Populismus eine Geschichte? Wenn die Antwort auf eine so allgemein gestellte Frage positiv ausfällt, gilt es, gleich klarzustellen, dass es drei sehr unterschiedliche Arten gibt, diese Geschichte zu schreiben. Man könnte zunächst bei der Geschichte des Wortes »Populismus« ansetzen: das ist der einfachste und am häufigsten eingeschlagene Weg. Wir werden die entsprechenden Elemente im Anhang präsentieren, denn diese Geschichte ist von vergleichbar geringem Nutzen, um unsere Gegenwart zu verstehen. Tatsächlich ist das Wort in drei verschiedenen, nicht miteinander verbundenen Zusammenhängen aufgetaucht, die nur schwache Bezüge zu dem haben, was wir heute darunter verstehen. Es handelt sich zunächst um den russischen Populismus der 1870–1880er Jahre, eine Bewegung von Intellektuellen und jungen Leuten aus der Oberschicht, ja der Aristokratie, die Plänen einer Modernisierung des Landes nach westlichem Vorbild kritisch gegenüberstanden und, nach ihren eigenen Worten, beabsichtigten, »ins Volk zu gehen«. Sie sahen nämlich in den Traditionen der Agrarkommune und der Dorfversammlung mögliche Ansatzpunkte für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Der Gedanke war, dass die Bauern in Russland die erneuernde Kraft darstellen, die man im Westen vom Proletariat erwartete. Es handelte sich um etwas, was man als »Populismus von oben« bezeichnen könnte, der niemals die Volksmassen selbst mobilisierte. Allerdings hatte er eine berühmte Nachkommenschaft, da viele große Namen des russischen Anarchismus und Marxismus in dieser Bewegung ihre ersten politischen Gehversuche machten.

      Ein Jahrzehnt später entstand in Amerika eine People’s Party, deren Unterstützer gemeinhin als populists bezeichnet wurden. Sie sprach vor allem die Masse der Kleinbauern in den Great Plains an, die sich im Krieg mit den Eisenbahngesellschaften und den Banken befanden, bei denen sie verschuldet waren. Sie hatte zu Beginn der 1890er Jahre einen gewissen Erfolg, aber es gelang ihr nicht, landesweit Beachtung zu finden, obwohl ihre Kritik der politischen Korruption und ihre Aufrufe zu mehr direkter Demokratie durchaus auf Resonanz stießen (Themen, die damals überall im Land auftauchten und zur Entstehung des Progressive Movement führten, das seinerseits mit Erfolg eine Reihe politischer Reformen anstieß – Durchführung von Vorwahlen, Möglichkeit der Absetzung von Mandatsträgern, Durchführung von Volksbegehren –, die in den westlichen Bundesstaaten des Landes durchgesetzt wurden). Die People’s Party war eine authentische Volksbewegung, die sich jedoch auf den landwirtschaftlichen Sektor eines kleines Gebietes beschränkte und der es nicht gelang, auf proletarische Wählerschaften überzugreifen. Keiner der amerikanischen Populisten hatte übrigens Kenntnis vom vorherigen Gebrauch des Wortes in Russland.

      Als das Wort 1929 in Frankreich auftauchte, geschah dies in einem völlig anderen Kontext und ohne Bezug zu den beiden vorherigen Geschichten. Das seinerzeit publizierte »Manifest des populistischen Romans« war nämlich eine rein literarische Stellungnahme, die in der Tradition des Naturalismus die französischen Schriftsteller*innen dazu aufforderte, mehr über das einfache Volk zu schreiben. Bei der Erwähnung dieses Populismus war also an Zola als Stammvater sowie die Zeitgenossen Marcel Pagnol und Eugène Dabit zu

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