Handbuch Sozialraumorientierung. Группа авторов

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Menschen grundsätzlich als bewältigungsfähige und zu autonomer Lebensbewältigung fähige Menschen und Adressat*innen Sozialer Arbeit zu betrachten und damit aber gleichzeitig den Einfluss sozialstruktureller (Lebens-)Bedingungen zu relativieren, würde im sozialräumlichen Diskurs versucht dadurch aufzulösen, dass Gesellschaft grundsätzlich als gestaltbar und veränderbar betrachtet und dargestellt würde, während gleichzeitig subjektbezogene Strategien wie Bildung, Begleitung oder auch Disziplinierung zur Anwendung kämen.

      Diese Kritik greift deshalb zu kurz, weil genau aufgrund der Reziprozität beider von Bingel genannter Auftragsaspekte Sozialer Arbeit (Verminderung sozialer Benachteiligung vs. Selbsthilfe und -organisation) die Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen einzufordern und im gesellschaftlichen Auftrag zu praktizieren sind. Denn benachteiligte Bevölkerung wird gerade durch sozialstrukturelle Bedingungen daran gehindert, ihre vorhandenen Ressourcen und Potenziale zu nutzen und zu erweitern (Hradil 1999). Soziale Arbeit geht dem soziale Ungleichheit nivellierenden Programm eines aktivierenden Bürgerstaats dann nicht auf den Leim, wenn Aktivierung als Aktivitätsermöglichung und -unterstützung (Noack 2015) für sozial benachteiligte Bevölkerung als gesellschaftliche Aufgabe angesehen und praktiziert sowie die Verantwortung dafür nicht alleine den Betroffenen zugewiesen wird.

      Die Thematisierung sozialer Benachteiligung muss nicht in »paternalistische Bedürfnisinterpretation« und »bevormundende Kontrolle ungünstiger Lebensstile in Sozialräumen« (Bingel 2011) abdriften, wenn sie auf der Basis vertrauensvoller, lebensweltorientierter Arbeit mit Betroffenen geschieht und deren Themen und Problemsicht aufnimmt. Dennoch dürften Stigmatisierungseffekte und Insuffizienzgefühle bei Betroffenen zwar unerwünschte aber nie ganz auszuschließende Effekte sein, deren Auftreten sicher auch mit der Machtbalance der Problemdefinitionen von Betroffenen und Fachkräften Sozialer Arbeit zu tun hat.

      Bingel (2011) gründet ihre Argumentationsfigur auf der problematischen Fokussierung des Gegenstands Sozialer Arbeit, der »Lösung« sozialer Probleme. Dies stellt eine weder korrekte noch notwendige Engführung der einschlägigen disziplinären Gegenstandsbeschreibung Sozialer Arbeit dar, die von Engelke (2004) als »Bewältigung sozialer Probleme« identifiziert wird. Mit dem Anspruch der »Lösung sozialer Probleme« (Bingel 2011) wird eine utopische Grundlage professioneller Mandatierung angenommen, deren Verwirklichung von vornherein als uneinlösbar erscheinen muss. »Bewältigung sozialer Probleme« (Engelke 2004) beinhaltet dagegen Aufgaben, die sich auf der Basis interdisziplinären Erklärungs- und Handlungswissens, professionell wirkungsvoll bearbeiten lassen. Auch die Darstellung des gesellschaftlichen Auftrages Sozialer Arbeit als Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft geht von einem zwar in den Sozialwissenschaften gängigen, aber nicht zwingenden Verständnis sozialer Prozesse aus. So bezeichnet Elias (1970) mit dem Begriff der »Figuration« Verflechtungsbeziehungen wechselseitig aufeinander angewiesener, weil voneinander abhängiger Menschen, deren Interdependenzgeflecht insgesamt als Gesellschaft bezeichnet werden könne und müsse, d. h. vereinfacht ausgedrückt: Gesellschaft besteht aus miteinander interagierenden Individuen.

      Zum dritten geht Bingel (2011) von einem absoluten Integrationsbegriff aus, der eine vollständige Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder an deren sozialen Gütern impliziert. Vollständige Integration ist in Gesellschaften unmöglich, die sich angesichts wechselnder Machtpotenziale menschlicher Beziehungen ständig wandeln. Wenn der Auftrag Sozialer Arbeit in der »Bewältigung sozialer Probleme« besteht und Gesellschaft als Interdependenzgeflecht gegenseitig voneinander abhängiger Menschen gesehen wird, kann Soziale Arbeit als vermittelnde oder intermediäre (Fehren 2008) Instanz insofern wirksam werden, als sie die Analyse der Verteilung von Machtpotenzialen und gesellschaftlichen Gütern und Chancen, deren Thematisierung und Skandalisierung, unter Verweis auf proklamierte, gesetzlich verankerte Ansprüche und Diskrepanzen zur empirischen Wirklichkeit sowie die Entwicklung von Angeboten professioneller, theoretisch und empirisch fundierter Interventionen und deren Einsatz als ihre Aufgabe annimmt.

      1.4 Sozialraumorientierung – interdisziplinäres Handlungskonzept

      Das hier zu beschreibende »Handlungskonzept Sozialraumorientierung« beinhaltet die analytische Auseinandersetzung mit Raum in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit aus historischer und sozialkultureller Perspektive (Dünne/Günzel 2006). Um sozialräumliche Prozesse erkennen und verstehen zu können, sind theoretische Grundlagen aus unterschiedlichen »menschenwissenschaftlichen« Disziplinen (Elias 1970) zu berücksichtigen und nach möglichen Erklärbeiträgen zu überprüfen. Von der Sozialgeografie, deren Gegenstand der sozial angeeignete und gestaltete Raum ist (z. B. Werlen 2008, Lichtenberger 1998), werden Erkenntnisse über soziale Gestaltungsprozesse räumlich-materieller Lebensbedingungen ergänzt. Hintergründe und Wechselwirkungen zwischen menschlichen Lebensweisen und deren räumlichen Formen, wie z. B. sesshafte oder nomadische Siedlungsweisen oder die Entwicklung von Städten und Dörfern, waren bereits Gegenstand der frühen Raum- und Stadtsoziologie, von deren Arbeiten Erkenntnisse über Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in ihren sozialräumlichen Dimensionen gewonnen werden können (u. a. Tönnies 1887, Sombart 1931, Simmel 1908). Fragen der ökonomischen Organisation, also der Wirtschaftsweise von Gesellschaften sind ebenfalls Gegenstand soziologischer und sozialpolitischer Theorien, die Erklärungen zu sozialräumlichen Aspekten der Erbringung und Verteilung gesellschaftlicher Güter liefern (u. a. Engels 1845; Marx/Engels 1872; Sombart 1902; Weber 1922). Der sozialökologische Ansatz der Chicagoer Schule (Park/Burgess/McKenzie 1925) und deren deutsche Variante, der »Kölner Schule« (Friedrichs 1977), bietet Erklärungen zur sozialen und räumlichen Organisation der Gesellschaft aus einer (sozial-)ökologischen Betrachtung der kollektiven Interaktionen von Individuen mit ihrer Umwelt. Sie erklären Selektionsprozesse mit den Prinzipien einer marktorientierten und ohne staatliche Eingriffe sich überlassenen (Stadt-)Entwicklung in vorwiegend wirtschaftsliberal organisierten Gesellschaften.

      Voraussetzungen und Konsequenzen menschlichen Zusammenlebens auf engem Raum sind wiederum Gegenstand sozialpsychologischer Betrachtungen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven (Simmel 1903; Elias 1937,1965; Sennet 1974; Beck 1986; Etzioni 1996; u. a.) und bieten für ein sozialräumliches Handlungskonzept wichtige theoretische Grundlagen zum analytischen Verständnis sozialer Prozesse gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion.

      Stadtsoziologische Erkenntnisse zur Dynamik globaler (Stadt-)Entwicklungen (Sassen 1991, Berking 2002), zum Vergleich globaler und europäischer Stadtmodelle (Häußermann 2001; Kaelble 2001), zu wesentlichen Merkmalen urbaner Lebensformen (Wirth 1938; Herlyn 1974; Prigge 1987), zum Spannungsverhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit (Bahrdt 1961) sowie zu den Kontroversen über Wirkungen von Homogenität und Heterogenität in Wohngebieten (Gans 1974; Heitmeyer/Dollase/Backes 1998; Häußermann/Oswald 1997; u. a.) sind wesentliche Grundlagen zum Verständnis früherer und aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und den diesbezüglichen sozialpolitischen Diskursen. Die räumlich-materiellen Rahmenbedingungen und deren Gestaltung sind, wie oben bereits erwähnt, Gegenstand von Stadtgeografie (Christaller 1933; Hofmeister 1999; u. a.), Architektur (Benevolo 2007; Hoffmann-Axthelm 1993; u. a.) und Stadtplanung (Streich 2011; u. a.) und geben Auskunft über Einflussfaktoren, Ideen, Möglichkeiten und Grenzen der räumlich-baulichen Gestaltung menschlicher Siedlungen wie Städten und Gemeinden.

      Weil Handlungskonzepte nach o. g. Definition Modellierungen darstellen, in welchen Ziele, Inhalte, Methoden und Verfahren in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden, bedarf das Handlungskonzept SRO einer Zielbestimmung. Diese ergibt sich aus dessen disziplinärer Zuordnung zur Sozialen Arbeit, die in dieser Publikation behandelt wird.

      Mit Ernst Engelke (2004) können wir Gegenstandsbereich und Anliegen Sozialer Arbeit in der »Bewältigung sozialer Probleme« sehen und dies als permanente Aufgabe in Gesellschaften begreifen, die Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit zum ethischen Leitbild erheben. Die Frage nach dem »Sozialen« kann nach soziologischer Betrachtung dahingehend beantwortet werden, dass das »Soziale« »der zentrale Grundbegriff

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