Warum musste Abel sterben?. Anselm Grün

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Warum musste Abel sterben? - Anselm Grün

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wo er sich annimmt, ein gutes Selbstwertgefühl hat.

      Dann wäre es möglich, zusammen mit unseren Partnerinnen oder Partnern unsere Kinder wachsen zu lassen, ohne sie ehrgeizig anzutreiben, damit sie all das kompensieren, was wir selbst nicht geschafft haben. Wir könnten sie liebevoll umarmen und in ihr eigenes Leben entlassen, wir könnten uns wiederfinden, als Menschen die Liebe empfangen und geben, als Freund und Freundin. Wir könnten lernen, wieder zu sehen, wie wertvoll wir eigentlich sind in den Augen des anderen. Sicherlich ist keiner vollkommen und keiner vollendet, aber in seinen Beschränkungen liebenswert. Aus dieser Erzählung in der Genesis können wir getrost ableiten: Gott ist das, was wir dringend brauchen als Gegenüber einer Hoffnung, die alle Angst der Kreatur beruhigt. Er ist das, was uns absolut fehlt, wenn wir als bloße Kreaturen in unserem Bewusstsein erwachen. Die Botschaft des Jesus von Nazaret wäre deshalb: Vertraut Gott! Wir müssen das immer wieder langsam und schrittweise einüben. An jedem Ort, an dem einer dem anderen ein liebevolles Wort sagt, ihm Vertrauen entgegenbringt, ihn akzeptiert und in seinem So-Sein belässt, würde dieses Vertrauen sichtbar. Was wir dann als Erlösung bezeichnen, wäre, dass wir verängstigten, geistverschreckten Lebewesen uns bei der Hand genommen sehen, vorbei an den Klippen des Lebens, zurück zum Baum in der Mitte des Gartens. Es gäbe Trost und keine Angst vor Nacktheit und Scham. Dann würden wir uns als Menschen fühlen und könnten dem anderen in unserer Nacktheit und Beschämung ohne Maske begegnen.

      Bernd Deininger

      In der Geschichte von Kain und Abel zeigt sich eine menschliche Urerfahrung. Das Motiv, die Rivalität zwischen zwei Brüdern, taucht in vielen unterschiedlichen mythischen Erzählungen auf. Auch wenn die Erzählung von Kain und Abel die älteste ist – das Alte Testament steckt voller Mordgeschichten: In der Folge der Patriarchate werfen Jakobs Söhne ihren verhassten Bruder, der immer bevorzugt wurde, in die Grube. In der Zeit der Könige lässt David den Ehemann der von ihm begehrten Batseba töten. Sein Sohn Absalom wiederum wird getötet, weil er seinen Halbbruder Amnon ermordet hat. Kann das bedeuten, dass die Aggression dem Menschen angeboren ist? Wie wird das Töten vom sozialen Umfeld mitgestaltet?

      Es gibt aus vielen Fachdisziplinen zahlreiche Erklärungsversuche für den Sadismus und die Grausamkeit, mit der Völker sich untereinander, aber auch Einzelne einander traktieren. Die Bibel ist sicherlich nicht dazu geschrieben worden, um die Strukturen geschichtlicher Ereignisse zu beschreiben. Dennoch wird in manchen biblischen Geschichten herauszuspüren versucht, was sich an der Oberfläche zeigt und sichtbar wird. Bevor Menschen zu Mördern werden, müssen sie selbst eine Geschichte durchlaufen haben, die sie verängstigt und schwer beeinträchtigt hat. Auch ein späterer Mörder kam als unschuldiger Säugling auf die Welt und wurde durch seine psychische Entwicklung zu dem gemacht, was er später wurde. Auch ein Mörder muss sich selbst wie vernichtet gefühlt haben.

      Vielleicht kann uns die Beschäftigung mit diesem Bibeltext einige Erklärungen liefern. Hier wird vor Augen geführt, was eine Besonderheit des menschlichen Daseins ist: der Fluch, die Tragik, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das selbst der Würger seines Nächsten werden kann. Die Frage lautet, was ist das Wesen, wenn ein Mensch gegen den anderen oder ein Volk gegen ein anderes aufsteht? Warum nehmen Krieg, Feindschaft, Mord und Vergewaltigung ein so breites Feld in der menschlichen Geschichte ein, dass wir in all dem, was wir bisher über den Menschen sagen können, keine Erklärung finden?

      Wenn wir diese überlieferte Geschichte aus heutiger Perspektive betrachten, könnten wir uns Fragen stellen nach der Persönlichkeit Kains, nach seiner Familie, nach den menschlichen Beziehungen, in denen er stand, bis hin zu den Ansprüchen, die Gott an ihn stellte. Zudem: Was ging dem Mord voraus und wie das Leben danach weiter? Gibt es nicht auch Sympathien für den Mörder Kain, der an sich und der Welt leidet? Nach der biblischen Erzählung ist ihm nach dem Mord sein Leben gelungen: Er arbeitet, zeugt Nachkommen und lebt in einem Sozialgefüge. Kain, dieser schuldbeladene Mann, löst Fragen, Projektionen und Identifikationen aus.

      Wir können das, was sich im Menschen abspielt, wenn Kain als Mörder seines Bruders aufsteht, nie anders begreifen, als dass sich ein Zerwürfnis wiederholt, das allem zugrunde liegt. Ist nicht das Zerbrechen der menschlichen Gemeinschaft nur die Widerspiegelung des Zerwürfnisses des Menschen mit seinem Gott? Was sich im Inneren eines Menschen abspielt, wenn er sich von Gott zurückgewiesen und gedemütigt fühlt, das tritt nach außen als eine zerstörerische Kraft, die unter den Menschen wirkt. Wenn wir uns den Genesis-Text noch einmal anschauen, begegnet uns ein Gott, der unheimlich und schrecklich erscheint. Es findet sich nichts Bergendes, nichts Versöhnliches, kein Gott mehr, der tröstet, sondern nur noch einer, der rächt. Es wirkt so, als ob Gott in gewisser Weise darauf hinweisen würde, dass nach der Trennung des Menschen von seinem Schöpfer auch die Gemeinsamkeit der Menschen selbst extrem gefährdet ist und dass sich unter ihnen eine Angst breitmacht, vom anderen bedroht und verfolgt zu werden. Durch die Trennung und das Zerwürfnis zwischen Gott und Mensch ist der Glaube an etwas Jenseitiges, etwas Göttliches verlorengegangen. Es bleibt nur noch die naturwissenschaftlich-materialistische Weltsicht.

      Das Bild in der biblischen Geschichte zeigt uns nach dem Hinauswurf aus dem Paradies einen Menschen von zunächst äußerster Friedfertigkeit. Kain wendet sich zu Gott mit den Früchten des Ackers und Abel bringt von den Erstlingen seiner Schafherde dar. Diese Szene zeigt sich zunächst als unverdächtig. Und dennoch taucht schon hier eine wesentliche Frage auf: Was geht in Menschen vor, wenn sie glauben, dass sie Gott Opfer bringen müssen? Können wir uns vorstellen, dass in einer Paarbeziehung, in der beide sich lieben und miteinander glücklich sind, einer auf die Idee kommt, er müsste dem anderen etwas opfern, um womöglich noch ein bisschen mehr geliebt zu werden? Erst wenn wir diese Frage stellen, können wir das Schreckliche, das hier unter dem Deckmantel des Harmlosen auftritt, begreifen. Wir haben mit Kain und Abel zwei Menschen vor uns, die nur glauben können, von Gott geliebt und beschützt zu werden, wenn sie Opfer darbringen – und zwar das Beste, das sie haben. Das Gefühl, von Gott nur geliebt zu werden, wenn Opfer gebracht werden und etwas geleistet wird, kann nur dann entstehen, wenn sich vorher ein Gefühl von Abgelehnt- und Ausgestoßensein eingestellt hat. Dieses Grundgefühl wird die Situation von Kain und Abel am ehesten beschreiben. Es handelt sich um zwei Menschen, die sich nicht vorstellen können, nur wegen ihrer bloßen Existenz und ihrem So-Sein gemocht und geliebt zu werden. Es gibt viele Menschen, die das Gefühl haben, das Recht, auf dieser Welt zu leben, hinge davon ab, dass sie alles tun, was von ihnen verlangt wird. Manchmal so, als ob es eine Schuld zu begleichen gäbe, die sie vielleicht gar nicht selbst auf sich geladen haben, die aber doch das gesamte eigene Dasein durch und durch prägt.

      Ich denke dabei zum Beispiel an jene Kinder, die bei einem One-Night-Stand gezeugt wurden und beide Elternteile niemals vorhatten, zusammenzubleiben. Oder jene, die aus einer destruktiven, gewalttätigen Beziehung heraus entstanden sind und die ihre Mütter durch ihre Anwesenheit immer wieder an diese destruktiven Szenen erinnern. Oder auch die Kinder, die nur einen Zweck erfüllen, zum Beispiel, ein Selbstobjekt – etwas, das das Selbstwertgefühl stärkt und Identität stiftet – für die Mutter zu sein. Dieses Gefühl, abgelehnt zu werden, eigentlich nur einen Zweck zu erfüllen oder gar nicht erst geboren werden zu sollen, nötigt viele Menschen dazu, sich mit besonderem Fleiß, einer besonderen Anstrengung und einer besonderen Duldsamkeit der Außenwelt gegenüber hervorzutun. Es geht also um das fundamentale Gefühl, anerkannt zu werden in seinem So-Sein und angesehen zu werden. Dieses Gefühl ist so zentral und wesentlich, dass es jeden Menschen betrifft.

      Daher kann man sagen: Kain und Abel, das sind wir alle. Kein Mensch glaubt wirklich von Grund auf, dass er so, wie er ist, genügt, ausreicht, liebenswert ist. Für viele wäre das zu einfach, zu bequem – geradezu zu naiv.

      Viele Kinder hören von ihren Eltern in etwa: »Wenn du gut und im Frieden mit uns leben willst, dann musst du dich anstrengen, dass aus dir einmal etwas (Gutes) wird.« Spätestens im Kindergarten wird dies den Kindern schon beigebracht und so zieht sich dieses Denken durch die gesamte Kinder- und Jugendzeit bis ins Erwachsenenleben hinein: Du wirst geliebt für das, was du leistest

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